Moral in Zeiten der Krise
dem ich eineinhalb Stunden sprechen konnte, herausgefunden, daß man dort drüben mit manchen Vorstellungen weit über das hinausgeht, was wir uns hier im Augenblick noch vorstellen. Es ist ein Problem, daß wir hier pausenlos mit einer Propaganda versehen werden, wonach wir es drüben mit einem Reich der Aggression, der Finsternis und der Bedrohung zu tun haben. Das führt dazu, daß hier ein Teil der Menschen die »eigenen« – wenn ich das so sagen darf – Atomraketen als hilfreich empfindet. Nicht zufällig werden die häufig mit Götternamen aus der Antike versehen. Ich weiß nicht, ob Ihnen das schon einmal aufgefallen ist, daß diese Raketen Nike, Herkules, Poseidon, Titan oder Saturn heißen. Das ist genau der Ausdruck dieser eigenen Gottesidentifizierung: Wir produzieren selbst unsere Götter. Unsere Götter sind unsere gefährlichsten Maschinen, die wir entsprechend benennen, diese todbringenden Raketen. Die halten wir aber für gut, weil sie gegen Luzifer, den Teufel, das Reich der Finsternis drüben gerichtet sind.
Ich glaube, die Überwindung dieses manichäischen Dualismus, der Wille, sich von dieser Einteilung der Welt in die beiden unversöhnlichen Reiche zu
lösen, ist der Kernpunkt eines neuen Denkens.
Rein: Herr Richter, fühlen Sie sich als Außenseiter der Gesellschaft der
Bundesrepublik?
Richter: Wenn ich denke, wie viele heute abend zu unsbeiden gekommen sind, dann gibt es
zumindest noch genügend Wohlgesinnte, oder wenn ich vor einer Woche in Bonn bei der großen Friedensdemonstration mit hunderttausend Menschen war, mit
denen ich mich einig gefühlt habe, so kann ich mich über ein mangelndes Gefühl der Geborgenheit nicht beklagen. Eher sehe ich mein Problem darin – das
habe ich einmal mit dem »Friedensprofi« gemeint –, daß man, wenn man relativ oft und engagiert auftritt, in meiner Generation nicht sehr viele hat, die
sich noch ähnlich dauernd so exponieren, daß man Erwartungen, Idealisierungen auslöst oder Projektionen bekommt, denen man nicht gewachsen ist. Deswegen
ist es mir eine Freude, zu sehen, daß jetzt sehr viel von unten nachwächst und gerade auch von jungen Christen sehr viel an neuen Ideen und Bewegungen
kommt, so daß ich mir sagen kann, daß wir Älteren überhaupt keine Außenseiter sind, sondern im Gegenteil jetzt vielleicht von jungen Kräften überholt
werden, die das einmal besser machen, als wir das in meiner Generation gemacht haben. Denn ich gehöre immerhin zu einer Generation, die ein großes
Scheitern zu verarbeiten hat.
Rein: Sie gehören auch zu einer Zunft, die es nicht schätzt, wenn jemand aus ihren Reihen sich zu
weit vorwagt. Haben Sie auch Erfahrungen gemacht, daß man es nicht so gerne sieht, daß Sie als Arzt, als Professor und als Analytiker permanent
kämpfen?
Richter: Ich habe sehr früh einmal gelernt, übrigens auch mit Hilfe meiner Frau, daß viele Männer Frauen brauchen, um mutiger
zu werden. Ich gehöre zu ihnen. Im Verlauf dieses gemeinsamen Lernprozesses ist mir klar geworden, daß es wichtiger ist, das zu tun, wovon man überzeugt
ist, als in seiner Zunft beliebt zu sein.
Stefan und ich benutzen eine gemeinsame Reise nach Zermatt, um unter den Viertausendern, von denen ich die meisten im Verlauf von Jahrzehnten bestiegen habe, 14 Tage lang laut über uns selbst nachzudenken. Auf Spaziergängen in halber Höhe, in der Nähe der Baumgrenze, zwischen alten Lärchen und Arven-Kiefern, die mit oft gebrochenen abgeknickten Stämmen und teils schon verdorrten Ästen verraten, was sie an Stürmen und Blitzeinschlägen zu verarbeiten hatten. Aber zwischen ihnen blühen Ende Juli im Gras duftende kleine braunrote Orchideen, fliederfarbene Astern und schneeweiße Margeriten. Zwei Wochen denken wir alten Männer über die Spuren der selbst erlittenen Blitzeinschläge und Sturmschäden nach und freuen uns dabei über die kleinen Alpenblumen vielleicht mehr als jemals zuvor.
Es hat wohl ein wenig Symbolcharakter, dass wir in dieser Natur an der Baumgrenze die passende Stimmung finden, uns voreinander zu öffnen. Alte Bäume, verwittert, trotzig, aber immer noch begrünt, und am Boden darunter die versteckten kleinen Orchideen, ein frisches Leben inmitten der Kargheit. Auch wir sind ja noch am Kämpfen und denken an die Jungen, denen wir Mut mitgeben wollen. Zurückgekehrt, machen wir aus dem, was wir uns gegenseitig erzählt haben, unsere Autobiographien. Stefan schreibt seinen Nachruf , ich Die Chance des
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