Moral in Zeiten der Krise
Handelns herausstellen, die Wissenschaftler engagierter
bei der gemeinsamen Orientierungssuche helfen; die im Osten sollten bei aller wichtigen rückblickenden Wahrheitssuche sich mehr um Verständigung und
Versöhnung kümmern. Kernpunkt seiner Analyse: Der Macht fehle zurzeit die Herausforderung durch den Geist. Sie selbst, also die Macht, wolle eben diese
Herausforderung verhindern. Und der Geist sei dabei, sich in die Resignation zurückzuziehen.
Gespräch mit Richard von Weizsäcker während der Müggelsee-Konferenz »Politische Selbstbesinnung«
Genau dies sind die kritischen Punkte, an denen wir in den folgenden zehn Jahren arbeiten – mit dem Erfolg, wie die Mehrheit feststellt, uns gegenseitig vielfältig anzuregen, was auch Weizsäcker lobt. Doch in der Gesellschaft zieht sich der Geist weiter aus der Politik zurück. Spiegel -Herausgeber Augstein stellt fest: »Es stimmt ja, daß Kanzler Helmut Kohl außer an der Machterhaltung an überhaupt keinem politischen Problem irgendein Interesse hat.«
Die von der CDU einst versprochene geistig-moralische Wende ist eher in Gegenrichtung eingetroffen. Die Parteiskandale werden häufiger. Die Bürgerferne der Politik wächst. Wenig ist von der erhofften gegenseitigen Ost-West-Befruchtung zu spüren – anders alswir uns innerhalb unseres Kreises erleben. Hier springt bald der Funke über – früher von Ost nach West als umgekehrt, dank der gewohnheitsmäßig größeren Offenheit der Menschen aus dem Osten.
Doch bald steigen auf beiden Seiten die Spannung und das Bedürfnis, die Nähe zu einem intensiven Austausch zu nutzen – eine Neugier, die über die zehn Jahre der Zusammenarbeit anhält. Verantwortliche aus der Tatwelt und engagierte Intellektuelle genießen es offensichtlich, gemeinsam besser zu erforschen, warum es so ist, wie es ist, und wie es besser sein sollte – und was zur Humanisierung unserer Gesellschaft anders gemacht werden muss. Die vereinbarte Vertraulichkeit verhindert, Ergebnisse direkt nach draußen zu tragen. Man will ja nicht etwa über die Medien damit konfrontiert werden, was man Kritisches über das eigene Lager oder Freundliches über die Gegenpartei gesagt hat. Gerade diese Offenheit im gemeinsamen Nachdenken ist es ja, die über die Jahre das Interesse an dieser Arbeitsform lebendig erhält.
Von außen mag es den Anschein haben, ein solches Unternehmen in der Abgeschiedenheit sei fragwürdiger Luxus. Aber ich würde aus meiner Erfahrung heraus eher sagen, gerade solche kritische und selbstkritische Besinnung mal abseits vom üblichen rasenden Betrieb, der von der Innenwelt absperrt, ist nicht nur psychosomatisch heilsam, sondern beinahe unerlässlich in einer Zeit, in der pausenloses Machen das innere Verarbeiten immer mehr überholt – mit der Folge, dass das langfristig Notwendige zunehmend aus der Sicht kommt und die Voreiligen viel Unheil anrichten.
Dass mich äußere Umstände nötigen, das spannende Unternehmen nach zehn Jahren zu beenden, bedauern manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausdrücklich.Richard von Weizsäcker gehört dazu. Er schrieb mir: »Der Kreis der Teilnehmer war ein Unikat, ersatzlos.« Ein solches Projekt ist natürlich ein Risiko, wenn man keine stützende Partei oder Organisation hinter sich hat. Die Teilfinanzierung durch das Sigmund-Freud-Institut fiel weg, weil mein dortiges Direktorat endete. Manche denken ja auch, mit 80 sollte einer aufhören.
Teil IV – Sich selbst in den anderen wiedererkennen
Eine Gefälligkeit für Peter Ustinov
Aber einer besteht darauf, dass ich noch nicht aufhöre. Es ist Sir Peter Ustinov. Er lässt mich bitten, eine von ihm gestiftete Gastprofessur an der Universität Wien zu übernehmen. Ich zögere, weil ich gerade in Vorarbeiten für mein Buch Krise der Männlichkeit stecke. Da ruft er mich an und wird gleich energisch: »Sagen Sie nicht, dass Sie zu alt sind. Sie sind erst 80, ich bin 82. Sie haben also keine Entschuldigung!« Ich muss lachen, aber fühle mich entwaffnet. Er möchte, dass ich an das Thema seines letzten Buches über Vorurteile anknüpfe, das er gerade abzuschließen im Begriff ist. Er legt mich dadurch fest, dass er mich im letzten Kapitel schon vorstellt und ankündigt. Ich freue mich, diesem wunderbaren Mann einen Gefallen erweisen zu können. Ein Bekenntnis am Schluss seines Buches, das er einem Freund in den Mund legt, lässt mich eine große Nähe zu ihm fühlen:
»Meine Lebenserfahrung sagt mir«, so Ustinov, »dass der Hass auf
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