Moral in Zeiten der Krise
Ich-Analyse , erschienen 1921, beschrieben. Als selbst Verfolgter musste er dann die praktische Realisierung seiner Theorie ohnmächtig über sich ergehen lassen.
Wilhelm Reich und Ernst Simmel waren die letzten deutschen Psychoanalytiker, die unmittelbar vor ihrer Flucht in die Emigration das Thema der massenpsychologischen Hörigkeit noch einmal öffentlich aufgriffen. Der vorläufige Rückzug aus der politischen Psychoanalyse unterbrach dann für längere Zeit die sozialpsychologische Erforschung der massenhaften suchtartigen Selbstentmündigung der Nazi-Gesellschaft. Die grausame Ausrottungspolitik schien es von selbst zu verbieten, die an Hitler geknüpften Erlösungswünsche auf ihre Abkunft aus alten religiösen Anbetungsbedürfnissen abzuleiten. Vor aller Augen stand das Bild eines der schlimmsten Massenmörder der Geschichte. Wer sollte sich jetzt eingestehen, diesem Monster jemals ergeben gehuldigt zu haben, wie es aber massenhaft der Fall gewesen war? So kam es zu der stillschweigenden Übereinkunft: Wir alle sind massiv getäuscht worden. Wir sind unserer Gutgläubigkeit erlegen. Aber woher kam die Gutgläubigkeit? Diese Frage hätte zu dem unbewussten »Unterwerfungsdurst« oder der »Autoritätssüchtigkeit« als Gründen der Gutgläubigkeit führen müssen.
Der nächste Schritt wäre, danach zu fragen: Warum ist die Unterwerfungsbereitschaft blind geworden? Denn die Gutgläubigkeit hat ja das Gute aus dem Blick verloren und ist zur Leichtgläubigkeit abgesunken. Da meldet sich nun wieder die Annahme des Gotteskomplexes als Erklärungshilfe. Seit der Mensch der Neuzeit auf dem Wege ist, sich die ursprünglich Gott zugesprochene Allmacht durch wissenschaftlich technische Herrschaft selbst anzueignen, ist ihm die andere Seite des Gottesbildes mehr und mehr entschwunden. Das ist der Gott der Güte, der Barmherzigkeit und der Liebe. Übrig geblieben ist eine Gutgläubigkeit ohne dasGute, eine Unterwerfungsautomatik ohne Liebe, ein blinder Gehorsamszwang. In seiner verarmten Innenwelt ist dem Menschen der Orientierungsmaßstab verloren gegangen. Dem Gott der Macht konnte er sich anzugleichen versuchen. Den der Güte hat er verdrängt. Und diese Leerstelle kann dann ein herrschsüchtiger Demagoge mit außergewöhnlicher suggestiver Begabung besetzen.
Wie das Milgram-Experiment bewiesen hat, reicht zum Auslösen prompter Unterwerfung der bloße Anschein moralischer Autorität. Ist der vorhanden, lässt sich eine Mehrheit sogar leichtgläubig zum Foltern anderer anstiften. Bezeichnend ist, dass dem Sozialforscher Stanley Milgram trotz der überprüften Beweiskraft seiner Experimente über Gehorsams-Automatik die Anerkennung seiner hochbedeutenden Entdeckung versagt geblieben ist, als hätte er raffiniert herbeigeführt, was er entdeckt hat, als hätte er die Menschheit planmäßig demütigen wollen und nicht einer überaus gefährlichen Veranlagung überführt.
Die Empörung ist dennoch verständlich. Denn die Studie deckt eine Anfälligkeit auf, die in der Tat mit unserer moralischen Selbstachtung absolut unverträglich ist. Aber es hilft nicht, eine Wahrheit zu verleugnen, weil sie überaus beschämend ist. Verleugnung lässt die Anfälligkeit unangetastet. Auf diese jederzeit aufzupassen, ist uns auferlegt.
Wie Zygmunt Baumann festgestellt hat, waren die Hunderttausende, die beim Holocaust gehorsam mitgewirkt haben, keine Gewaltmenschen, sondern – nach allen psychologischen Untersuchungen – überwiegend durchschnittliche Individuen, die aus fehlendem Mitempfinden unmenschliche Befehle automatisch befolgt haben. Es ist die Auswirkung des Gotteskomplexes,dass die Humanität in vielen keine innere Instanz mehr hat, die unbedingt Bewährung fordert. An erster Stelle unserer Fortschrittsvision müsste die Wiedererweckung und Ausweitung des Mitfühlens stehen, sagt Richard Rorty zu Recht in seinem Buch Hoffnung statt Erkenntnis . Erst dann können wir uns auf uns selbst verlassen, ohne zu fürchten, irgendwann wieder in Hörigkeitsepidemien wie unter Stalin, Hitler oder Mao zu verfallen.
Gebundenheit und Mitverantwortung
Geschildert habe ich, wie ich als junger Psychoanalytiker allmählich gelernt habe, in den Symptomen meiner kindlichen und jugendlichen Patienten die Spuren der Eltern zu entdecken, die aus der Nazi-Hörigkeitsgesellschaft kamen und manches von erlittenen eigenen Deformierungen an die Kinder weitergaben. Diese wiederum brauchten Ermutigung, um trotz der Zumutungen seitens der Eltern
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