Moral in Zeiten der Krise
Lustgarten, wo Bundespräsident von Weizsäcker eine Rede hält. Der ist von unserem Vorhaben sofort angetan und wird fortan bis 2002 bei fast allen Symposien dabei sein.
Ich bin überrascht, wie engagiert sich die Eingeladenen auf unserer ersten Probeveranstaltung beteiligen und sich über das Angebot freuen, das Symposium als Reihe – ein- bis zweimal pro Jahr – fortzusetzen. Dank an die Friedrich-Ebert-Stiftung, dass sie uns das ermöglichen will. Vom nächsten Mal an treffen wir uns in einem ehemaligen HO -Hotel am Müggelsee, vormals Territorium der DDR . Freitagabends gemeinsames Abendessen. Sonnabend vor- und nachmittags Gruppenarbeit, in den Pausen Spazierengehen, Landschaft genießen, Ausruhen. Sonntag wieder Gruppenarbeit, Abschiedsessen.
Um wenigstens von der Art des wechselnden Teilnehmerkreises einen Eindruck zu vermitteln, sei eine Auswahl von regelmäßig oder nur sporadisch Mitwirkenden zusätzlich zu den schon Aufgeführten genannt: Norbert Blüm, Dr. Hans Otto Bräutigam, Propst Heino Falcke, Prof. Andreas Flitner, Hermann Freudenberg, Joachim Gauck, Christoph Hein, Regine Marquard, Prof. Rita Süssmuth, Christa Wolf, Dr. Christine Hohmann-Dennhardt, Dr. Lothar Späth, Prof. Walter Jens, Oskar Lafontaine, Prof. Dieter Klein, Christoph Dieckmann, Prof. Rudolf Hickel. Während der folgenden zehn Jahre wächst der Kreis der Eingeladenenauf über 30 an, was trotz der Terminschwierigkeiten jeweils eine Runde von 12 bis 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zusammenzustellen ermöglicht. Egon Bahrs Unterstützung erleichtert mir dabei meine persönliche Aufgabe sehr.
Es ist schnell Neugier aufeinander erwacht. Gleich am Anfang und bei den nächsten Symposien fällt ein Unterschied auf. Die aus dem Osten verraten leichter, wie es in ihnen aussieht, nämlich dass es ihnen weh tut, sich erniedrigt zu fühlen. Dass man nicht anerkennt, welchen Mut es sie gekostet hat, sich schließlich gemeinsam aufzulehnen und die Freiheit zu erkämpfen. Nun werden sie behandelt, als seien sie auch als Menschen zurückgeblieben, als müssten sie sich erst einmal bewähren, um als vollwertig anerkannt zu werden. In unserer Runde schämen sie sich weniger, ihre Gefühle zu offenbaren. Die westliche Rivalitätsgesellschaft lehrt wohl eher, aufzupassen, sich nicht so schnell anzuvertrauen, sich nicht so leicht eine Blöße zu geben. In unserer Gruppe hat die größere östliche Durchlässigkeit die Annäherung aneinander beschleunigt und das Klima aufgelockert. Die verabredete Vertraulichkeit verbietet mir, in diesem Zusammenhang Namen zu nennen. Aber ein Teilnehmer aus dem Osten, der im Westen für die Zeit schreibt, hat mir erlaubt, aus einem Redebeitrag von ihm zu zitieren. Es ist Christoph Dieckmann, der in wenigen Worten beschreibt, wie einer aus dem Osten den Westen sieht, die Vereinigung deutet und die Wirkung auf die Seele der Ostdeutschen erlebt. Nur ein paar Sätze, aber sie erfassen einen Aspekt des ganzen Dramas. Und sie zeigen einen Zusammenhang von Empfinden und Denken, den die Politik kennen muss, um zu verstehen, was sie tut und warum sie es tut:
» DDR und BRD haben als polemische Symbiose gelebt:Die Vertilgung der einen Seite durch die andere löste diese Symbiose auf, brach die beidseits erklärende Geschichte ab und brachte die Überlebende in Identitätsschwierigkeiten. Die DDR hat’s gut. Sanfter ruht kaum eine Diktatur.«
»Dieser Anschluß war keine Vereinigung in einem tertium comparationis . Dieser Anschluß hieß Ausschluß von Erfahrungen des Ostens (nicht zu verwechseln mit den viel besungenen Errungenschaften ) hieß Adoption statt Adaption .« »Der Osten absentiert sich und versackt in provinzieller Selbstgerechtigkeit wie ehedem: Machen kannste eh nischt, alles entscheiden die drüben (vulgo: die Bonzen, die da oben).«
Richard von Weizsäcker von Anfang an für unser Symposium zu gewinnen, erweist sich als besonderes Glück. Denn keiner aus der
politischen Klasse des Westens erreicht das Format seiner kritischen und selbstkritischen Analysen, die er sogar als Bundespräsident in einem Interview
mit Günter Hofmann und Werner A. Perger ungeniert der Öffentlichkeit darlegt. Als Mitglied unseres Symposiums gibt er uns wichtige Stichworte: Den
Parteien hält er vor, dass sie mehr Einfluss durchsetzen, als ihnen zustehe, dass ihr Verantwortungssinn hinter ihren Machtinteressen zurückbleibe. Die
Kirchen sollten statt ewiger apologetischer Diskussion stärker die Notwendigkeit solidarischen
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