Moral in Zeiten der Krise
andere Menschen Selbsthass ist, getarnter Selbsthass. Gegen die Verachtung wurde uns die Toleranz gepredigt (…). Doch ist sie wirklich die Lösung der Welt-Probleme, die Toleranz? Obwohl ich pragmatisch bleiben will: Ich glaube, sie reicht nicht ganz. Denn Toleranz heißt Duldung. Die Toleranz, so human sie ist, fordert uns auf, den anderen zu dulden. Mir ist das zu wenig. Ich gehe mit Zeitgenossen wie dem wunderbaren Journalisten Georg Stefan Troller. Er wurde gefragt, warum er so viele Filme über Behinderte gedreht habe und über Strafgefangene. Er gab zur Antwort: ›Weil wir alle irgendwie behindert sind.‹ (…) Und über die Gefangenen: ›Es kommt darauf an, dass dieZuschauer sogar bei einem ihnen fremden, anfangs ganz unsympathischen Menschen sagen: Das bin ja ich‹.«
Genau dies hat mich in den Filmen Georg Stefan Trollers angerührt: »Das bin ja ich«. Das hatte auch ich als Soldat an der Ostfront gedacht, nachdem ich freundliche Russen kennengelernt hatte und anschließend auf ebensolche mit meiner Haubitze schießen musste: »Aber die sind ja so wie ich.« Das ist es also auch, was den alten großen englischen Schauspieler, Schriftsteller, Filmregisseur, Sonderbotschafter der UNICEF und ehemaligen Universitäts-Rektor Ustinov so bewegt, dass er damit sein letztes Buch enden lässt. Dass ich ähnlich fühle, hat er wohl meinen Veröffentlichungen entnommen und mich deshalb zur Fortsetzung seiner Aufklärungsarbeit eingeladen.
Ich habe meine Zusage zu der Gastprofessur mit seinem Versprechen verknüpft, mit mir zusammen auf einer Veranstaltung zum 1. Jahrestag des Irak-Krieges zu reden, und zwar vor einem Depot amerikanischer Atomraketen in Ramstein in der Pfalz. Er hat zugesagt. Seine Anreise war gut geplant. Da kommt die Nachricht von seiner akuten schweren Krankheit. Genau zu Beginn meiner Wiener Vorlesungsreihe muss ich den Hörern seinen Tod bekannt geben. Ich schließe an sein letztes Buch an, so wie er es sich vielleicht gewünscht hätte, nämlich mit dem Gedanken: »Krieg heißt, Menschen zu töten, die so sind wie ich selbst.«
Peter Ustinov ist wie ich ein Verehrer des Ex- US --Präsidenten Jimmy Carter geblieben, auch nachdem die Amerikaner ihre Reue-Pflicht über Vietnam für abgeleistet hielten und zu dem Stärkekult-Politiker Ronald Reagan übergelaufen waren. Carter habe, so Ustinov, zum Präsidentenamt nach Abwahl noch eine höhere Stufe erklommen, nämlich als Ex-Präsident mit einemeinmaligen moralischen Engagement mehr für die Menschen getan, als er es im Amt des Präsidenten je tun konnte. Wenn andere Politiker Menschenfreundlichkeit als Werbung in eigener Sache betrieben, so treffe das für Jimmy Carter nicht zu. Mehrere Seiten seines letzten Buches hat Ustinov der Würdigung Jimmy Carters gewidmet. Ich merke, er findet bei Carter, woran er selber glaubt. Und es bewegt mich, dass er mir aufgetragen hat, an seine Botschaft mit meinen Gedanken anzuknüpfen, obwohl mir trotz meiner satirischen Neigungen seine Fähigkeit abgeht, Geist und Herz durch einen einzigartigen Humor zu versöhnen.
Von der Gläubigkeit zur Ratlosigkeit
Bei der Skizzierung meiner Theorie vom Gotteskomplex hatte ich davon gesprochen, dass die Menschen am Ausgang des Mittelalters in der Wissenschaft einen Weg suchten, gläubige Abhängigkeit in herrscherliche Eigenmacht zu verwandeln. Es war ein Aufstand des Intellekts gegen das Ausgeliefertsein an die Ungewissheit göttlicher Gnade. Es ging um die Überwindung von Unmündigkeit. Das war der Beginn einer sich über die Jahrhunderte hinziehenden wissenschaftlichen und schließlich auch technischen Machtergreifung, die psychologisch mit einer Unterdrückung der Gefühlsseite einherging, also von Hingabe, Mitgefühl, Vertrauen, Ehrfurcht und Liebe. Der zeitweiligen Wiedererweckung dieser Gemütsseite in der Romantik folgte der in endloses Rivalisieren mündende Eroberungsehrgeiz des Industrie-Zeitalters. Nietzsche versprach den Aufschwung zum Übermenschen.
Aber was wurde aus den unterdrückten Sehnsüchten nach Geborgenheit, nach Schutz und Beistand? Diese verdrängten Wünsche verwandelten sich in eine verhängnisvolle Disposition, die zu den verheerenden Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts führte. Die Erlösungshoffnungen verwandelten sich in einen blinden »Unterwerfungsdurst« (Le Bon) oder in primitive »Autoritätssüchtigkeit« (Freud).
Freud hat diese massenpsychologische Regression ausführlich in seiner großen Arbeit Massenpsychologie und
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