Moral in Zeiten der Krise
ihren eigenen Weg zu finden und zu behaupten.
Als Teile der 68er Jugend mir signalisierten, dass sie sich mit ihren Schwierigkeiten in Eltern, Kind und Neurose wiederfanden und mich regelrecht einluden, an ihrer humanistischen sozialen Bewegung der siebziger Jahre teilzunehmen, erkannte ich unser gemeinsames Bedürfnis: Wie können wir uns und die Gesellschaft so emanzipatorisch verändern, dass repressive Beziehungsstrukturen überwindbar werden? Und umgekehrt: dass natürliche Bindungsbedürfnisse nicht wieder in Hörigkeit münden? Das wurde ein wichtiges Thema für die Erziehungsreformen der siebziger Jahre.
Ich freute mich über das Vertrauen, das ich als Ratgeber und Begleiter mancher sozialer Reformprojekte der siebziger Jahre erntete. Doch ein Teil von mir selbst war immer noch der seiner ermordeten Eltern beraubte Junge, dem Dostojewski mit seinem Toten Hause nicht aus dem Kopf ging. Ich war sehr glücklich mit Bergrun. Doch suchte ich, des ermordeten Vaters beraubt, im Innern weiter ein väterliches Vorbild. Und das war dann vornean Willy Brandt. Es tat mir wohl, dass er mich für meine unterstützende Analyse in der Guillaume-Affäre im Spiegel mit Anerkennung belohnte und mich weiterhingelegentlich zu Gesprächen einlud. Ich empfand Dankbarkeit und zugleich Ermutigung. So, denke ich, sollten demokratische Führer aussehen, an denen man selbst wachsen kann, weil sie Mitverantwortung und nicht Unterwerfung erwarten, also eine Verbundenheit, die nicht in Hörigkeit ausläuft. Es sind offene Persönlichkeiten, die über ihre Ideen wirken, nicht durch entmündigende Herrschaftsmacht. Außer an mir habe ich an vielen anderen bemerkt, wie wir in dem Reformklima, das Brandt um sich verbreitete, uns selbst zum Mitdenken und zu kreativer Beteiligung anspornten.
Wir wollten ihm das Vertrauen, das er uns schenkte, durch eigene Verlässlichkeit zurückgeben. Diese Gegenseitigkeit, die im direkten zwischenmenschlichen Verhältnis zweier Personen beginnt, gibt Vertrauen, schafft Verlässlichkeit und wirkt durch Beziehungsstrukturen in den gesamten politischen Raum und die Gesellschaft. Sie war es, die der Politik Brandts und Gorbatschows ihre ausstrahlende Kraft verlieh.
Und dazu gehört, noch einmal sei es erwähnt, die große Geste Willy Brandts am Warschauer Getto-Mahnmal, mit der er diejenige geistige Führerschaft bewies, deren Ermangelung die neuzeitliche moralische Abstumpfung verschlimmert. Denn manche verübelten ihm diese Demonstration als Schwäche, als wäre es nicht eine Großtat zur Wiedergewinnung der verlorenen Selbstachtung und der Achtung in der Welt gewesen. Die Fähigkeit, Schuld anzunehmen und um Vergebung zu bitten, offenbart diejenige menschliche Stärke, die gerade hohe Führer vorleben sollten, um mit sich selbst im Reinen zu bleiben und mit solchem Beispiel erfolgreicher erzieherisch zu wirken als durch alle triumphalen Glanztaten.
Als das Deutsche Fernsehen kürzlich das Publikumdie angeblich bedeutendsten »Sternstunden« Deutschlands küren ließ, hätte ich mir gewünscht, Brandts Kniefall hätte mit zur Auswahl gestanden. Von den Überlebenden meiner Generation hätte es gewiss manch einer dem Fernsehsender gedankt.
Technik und Naturwissenschaft als Welt-
religion? Meine Freundschaft mit Joseph
Weizenbaum
Die Rede war davon, wie sich das Bedürfnis nach Verehrung und Anbetung in massenpsychologische Hörigkeit mit furchtbaren Folgen wandeln kann. Inzwischen beginnen wir aber auch zu verstehen, dass die intellektuelle Selbstbefreiung der Aufklärung in sich selbst eine undurchschaute Unterwerfung enthält. Die Naturwissenschaft gewinnt eine eigene Herrschaftsmacht, indem sie zu einer Art religiöser Huldigung auffordert. Dafür hat uns ein Pionier der Computer-Wissenschaft die Augen geöffnet, der Mitte der neunziger Jahre zu einem meiner wichtigsten letzten Freunde geworden ist. Es ist Joseph Weizenbaum.
Genau wie ich wurde er 1923 in Berlin geboren. Sein Vater war Kürschnermeister. 1936 emigrierte die jüdische Familie in die USA . Dort studierte Joseph Mathematik. Im Krieg diente er in der meteorologischen Abteilung der US -Luftwaffe, arbeitete danach im Computer Development Laboratorium von General Electrics, bis er 1963 an das Massachusetts Institute of Technology ( MIT ) überwechselte, wo er zum Professor für Computerwissenschaft aufstieg. Hier sah er, wie das Pentagon zum Hauptauftraggeber für militärische Forschungsprojekte in der Computerwissenschaft wurde. Ein
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