Moral in Zeiten der Krise
erleuchtendes Schlüsselerlebnis schildert er so:
»Wir haben Waffen und Waffensysteme für den Vietnamkrieg am MIT erfunden, da kann ich lange Geschichten erzählen, grausame Sachen. Das MIT ist sehr eng mit dem Pentagon verbunden. Und damals, als jüdisch-deutscher Emigrant in Amerika, mussteich mich fragen, ob ich jetzt die Rolle spielen möchte, die ich so gehasst habe bei vielen, sogar bei den meisten deutschen Wissenschaftlern, Professoren, Akademikern in der Hitlerzeit. Diese Haltung, zu sagen: Ich bin Naturwissenschaftler, das ist mein Fach, und was mit meiner Sache gemacht wird, das geht mich nichts an. Ich bin kein Politiker. Dafür sind andere Leute verantwortlich. Ich habe mich in der Zeit des Vietnamkrieges und der Bürgerbefreiungsbewegung in den USA gefragt, ob ich jetzt die Rolle dieser deutschen Professoren spielen möchte oder nicht. Damals habe ich mich ganz klar und ganz explizit entschieden.«
Aber Weizenbaum hat nicht nur die Mitarbeit an fragwürdigen militärischen Projekten eingestellt, sondern ist seitdem engagiert als kritischer Aufklärer und beteiligt sich an Demonstrationen. »Dann kommen einige meiner Kollegen später zu mir, legen ihren Arm um meine Schulter und sagen: ›Das hast du gut gesagt, das musste gesagt werden. Ich freue mich, dass du es sagst.‹ Jetzt, wo es gesagt wurde, muss es nicht mehr gesagt werden. Das kann auch sein. Ich bin traurig darüber, dass mich so viele meiner Kollegen privat unterstützen, aber einfach nie an die Öffentlichkeit treten.«
Im Vietnamkrieg ging es darum, Minen zu erfinden, die nicht durch schwere Fahrzeuge, sondern durch Fußgänger zur Explosion gebracht wurden. Damals sickerten Tausende nordvietnamesischer Soldaten zu Fuß nach Südvietnam ein. Denen sollten die Minen die Beine abreißen, für Weizenbaum eine unerträgliche Vorstellung. Aber warum nicht für die Mehrzahl seiner Kollegen? Die standen offenbar so sehr im Bann ihrer wissenschaftlichen Aufgabe, dass ihnen die Ablenkung von der Sache mehr Skrupel bereitete als die Sacheselbst. Absorbiert von dem technischen Problem war in ihnen kein Platz mehr für das Mitgefühl mit den verstümmelten Menschen.
Weizenbaum aber dachte weiter und fragte sich, ob die wissenschaftlich technische Revolution die Menschen nicht überhaupt in eine ohnmächtige Abhängigkeit versetze. »Die alltägliche Macht unserer Technologie verleiht den Priestern der Kirche, die das alles ermöglichen, eine fast grenzenlose Autorität und Glaubwürdigkeit.« Und: »Die Naturwissenschaft ist die heute nachhaltig vorherrschende Weltreligion.«
Weizenbaum hat damals prompt die Mitarbeit an allen militärischen Projekten eingestellt. Er blieb Professor am MIT , aber verlegte seinen Hauptwohnsitz wieder nach Berlin. Hier redete er als engagierter Aufklärer in Universitäten und Schulen. 1995 begegneten wir einander erstmalig im Berliner Hegel-Institut in einer Veranstaltung über den »Dialog«. Weizenbaum erläuterte anhand seines berühmten Computer-Programms Eliza , wie Menschen sich von einem programmierten Computer ähnlich verstanden fühlen können wie von einem Psychotherapeuten. Sie geben der Maschine intime Dinge von sich preis und geraten ihr gegenüber in eine ähnliche Hörigkeit wie die Probanden gegenüber dem Experimentator im Milgram-Versuch.
Obwohl Weizenbaum gelegentlich auch Spaß daran hat, Menschen hinters Licht zu führen, war es ihm bitter ernst damit, die Leute vor ihrer Selbstentmündigung durch die Computer-Technologie zu warnen. Er erschrak über die weltweite Berühmtheit, die ihm ausgerechnet der Scherz mit Eliza einbrachte. Denn manche, auch bekanntere Psychiater, erwogen ernsthaft, Eliza für ihre Therapie zu nutzen. In einem medizinischen Journal hieß es, das Programm sollte zwar noch etwasverfeinert werden, aber die Hoffnung bestehe, mit dem Computer demnächst viel Personal in psychotherapeutischen Kliniken einsparen zu können.
Mein psychoanalytischer Vortrag passte im Hegel-Institut zu Josephs Entlarvung der Computer-Gläubigkeit. Ich zeigte, wie schwer es oft sogar der geschulte Psychoanalytiker hat, einen Analysanden genau zu verstehen. Ich berichtete von einem eigenen Experiment, mit dem ich mich in meiner Zunft ähnlich unbeliebt machte wie Joseph mit Eliza . Acht Psychotherapeutinnen und -therapeuten verfolgen eineinhalbstündige, per Video übertragene Erstinterviews mit Patienten. Anschließend beschreiben die Therapeutinnen bzw. Therapeuten den jeweiligen Patienten
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