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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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psychologisch auf einem statistisch auswertbaren Testbogen. Das machten wir ein halbes Jahr lang. Resultat: Trotz vieler Übereinstimmungen neigte jeder der analytischen Beobachter zu einer für ihn selbst spezifischen Abweichung. Nachdem die acht sich mit dem gleichen Test selbst und gegenseitig diagnostiziert hatten, wurde uns ganz klar: Wie Therapeuten Patienten verstehen, hängt zumindest teilweise auch davon ab, wie sie sich selbst verstehen. Aber der Therapieverlauf ermöglicht es ja dem Therapeuten, seine Einfühlung zu vertiefen, und das kann der Computer natürlich nicht.
    Was Joseph und mich näher zusammenbrachte, waren die Traumen unserer Biographien. Bei ihm war es die Diskriminierung, die zur Vertreibung führte. Bei mir war es die Ermordung meiner Eltern und das Verschulden, zuvor jahrelang – wie widerwillig auch immer – in einem Krieg mitgemacht zu haben, der schließlich meine Eltern unter furchtbaren Umständen das Leben kostete. Joseph nahm die Misshelligkeiten, die ihm aus seinem Protest gegen den Vietnamkrieg erwuchsen,in Kauf. Ich machte mir als einer der Wortführer der Friedensbewegung viele der konservativen Landsleute und zunächst auch die Spitzen der medizinischen Zunft zu Gegnern. Beiden fehlte es uns nicht an Gesinnungsfreunden, doch waren wir beide Außenseiter mit unserem politischen Engagement jenseits der traditionellen Pflichten des Lehrens und Forschens und in meinem Falle auch noch des Therapierens. Es war etwas in uns, das uns unwiderstehlich zu politischem Engagement trieb. Es waren der Ungeist und der Schrecken, die auf unterschiedliche Weise noch in uns steckten, und das Gefühl, die Mitverantwortung für einen allgemeinen Wandel zur Humanität zu tragen. Dabei kam es zu bezeichnenden Begegnungen wie der folgenden:
    In einer hessischen Großstadt hatte mich die Schülervertretung einer Gesamtschule zu einer jährlichen Veranstaltung »Jugend und Zukunft« eingeladen. Über 400 Schülerinnen und Schüler, dazu ein Teil der Lehrerschaft, erwarteten mich in einer mäßig erleuchteten großen Aula. Aber in helles Licht getaucht war ein großes Plakat, das mich sofort anzog.
    Ich las eine mir wohlbekannte Stelle aus Josephs Buch von 1976 Computer Power and Human Reason (zu Deutsch: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft ):
    »Die Rettung der Welt hängt nur von dem Individuum ab, dessen Welt sie ist. Zumindest muß jedes Individuum so handeln, als ob die gesamte Zukunft der Welt, der Menschheit selbst, von ihm abhänge. Alles andere ist ein Ausweichen aus der Verantwortung und selbst wieder eine enthumanisierende Kraft, denn alles andere bestärkt den einzelnen nur in seiner Vorstellung, lediglich eine Figur in einem Dramazu sein, das anonyme Mächte geschrieben haben, und sich als weniger als eine ganz Person anzusehen, und das ist der Anfang von Passivität und Ziellosigkeit.«
    Es wurde ein langer Abend. Josephs Text gab mir Gelegenheit, etwas von unserer Freundschaft und davon zu erzählen, wie es mir als achtzehnjährigem Jungen ergangen war, als ich in Russland mit meinem Geschütz mitschießen musste auf Menschen, die von uns ahnungslos überfallen worden waren. Wie ich mich vor Stalingrad bei einem kleinen russischen Jungen mit Diphtherie angesteckt hatte, als seine Eltern mich um Hilfe gebeten hatten. Wie ich dann durch eine postdiphtherische Polyneuritis gerade noch dem Schicksal von 200 000 Kameraden entging, die im Kessel von Stalingrad fast vollständig untergingen. Dann hören die Schülerinnen und Schüler von mir, warum ich trotz oder gerade wegen des Schrecklichen, das meinen Eltern nach Kriegsende von Russen widerfahren war, für die Aussöhnung mit den Russen aktiv geworden bin. Und dass es mir Hoffnung macht, wie freundschaftlich inzwischen russische und deutsche Studenten übereinander denken, was unsere große vergleichende Befragung ergeben hat.
    Wenn Weizenbaum von der Verantwortung des Einzelnen für das Ganze der Welt spricht, so hat er nicht das isolierte, sondern das in der Gemeinschaft wirkende Individuum vor Augen. In seinem später verfassten Vermächtnis heißt es: »Kein Mensch ist eine Insel. Seine Haut ist nicht seine Grenze. Der Mensch ist ein Element, unteilbar von seinen Mitmenschen, von der Gesamtheit und der Geschichte. Nicht einmal sein Todtrennt ihn vom Universum.« Damit kommt er der Feststellung Schopenhauers nahe: »Mein wahres inneres Wesen existiert in jedem Lebenden so unmittelbar, wie es in meinem Selbstbewußtsein

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