Moral in Zeiten der Krise
die dem moralischen Versagen zugrunde liegt. In der Tat kann man es nur krankhaft nennen, wenn in einer Gesellschaft die Widerstandskraft gegen selbstschädigende Impulse abhanden kommt. Freud ist auf die Annahme eines natürlichen Todestriebes verfallen, den er biologisch begründet hat. Dagegen erscheint mir sinnvoller, die im Gotteskomplex vorgetragenen Gedanken aufzugreifen. Diese können uns lehren, dass der neuzeitliche Pessimismus in der heimlichen Verzweiflung darüber begründet ist, dass wir mit der an den technischen Fortschritt geknüpften Egomanie endgültig gescheitert sind. Wir befinden uns in einem Moment, da die historisch erprobte Flucht aus dem Leiden durch Besiegen des Bösen nicht mehr gelingt. Die Abreaktion an dem letzten – in Wahrheit künstlich aufgeblasenen – Weltfeind Saddam Hussein bedeutete nur den Aufschub einer unumgänglichen totalen Revision des Selbstverständnisses.
Ein Zeitalter der Empathie durch technische
Vernetzung?
Das neue große Buch des amerikanischen »Vordenkers« Jeremy Rifkin, Berater verschiedener Regierungen, angeblich auch der deutschen Kanzlerin, heißt: Die empathische Zivilisation . Ein ermutigender Titel. Jedenfalls ist mir Rifkin darin voraus, dass er das Zeitalter der Empathie bereits als »Triumph der menschlichen Evolution« anbrechen sieht. »Wir sind drauf und dran«, schwärmt er, »die Begriffe des ›Anderen‹, des ›Fremden‹, des ›Unbekannten‹ hinter uns zu lassen.« Nach Rifkin durchläuft das menschliche Bewusstsein aufeinander folgende Phasen einer »Evolution«, die er als mythologisch, ideologisch, psychologisch, dramaturgisch benennt. »Bisher«, so entdeckt er, »erlangte die empathische Sensibilität bei jeder Umstellung auf eine neue Phase neue Höhen«. Also scheint es so weiterzugehen. Die Empathie wäre demnach auf einem unaufhaltsamen Vormarsch.
Diese kühne Deutung entnimmt Rifkin seiner Geschichte des menschlichen Bewusstseins, die er nirgends zu den politischen Geschehnissen in Bezug setzt. Es fallen keine Namen von politischen Akteuren, nur die von Wissenschaftlern. Von Darwin etwa, der die Evolution zur Empathie hin schon vorausgesehen habe, aber seiner Zeit gemäß noch von Sympathie statt Empathie gesprochen habe.
Rifkins optimistische Empathie-Erwartung erinnert mich an Freud, der 1932 in seinem Briefwechsel mit Einstein in der Kulturentwicklung ebenfalls einen organischen Prozess zu erkennen glaubte. Freud hatte ein Erstarken des Intellekts, der das Triebleben zu beherrschenbeginne, vorausgesagt. Vielleicht sei dieser Prozess mit der Domestikation verschiedener Tierarten vergleichbar. Jedenfalls meinte Freud, der Einfluss der kulturellen Einstellung und die Angst vor den Folgen eines Zukunftskrieges könnten vielleicht dem Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen. Das sei möglicherweise keine utopische Hoffnung. Aber er blieb sehr vorsichtig. Als ihm 1930 klar geworden war, dass dem Menschen bald Zerstörungsmittel zur Verfügung stehen würden, mit denen er sein Geschlecht vollständig ausrotten könnte, ließ er offen, ob der Eros – der Begriff Empathie war noch nicht in Gebrauch – oder die Destruktivität die Oberhand gewinnen würde. Tatsächlich folgten statt Empathie Naziterror und Holocaust und später der Kalte Krieg am Rande atomarer Vernichtung.
Rifkin verbindet sein Konzept wesentlich mit den rasenden Fortschritten der Kommunikationstechnologie. Im Hauptteil seines Buches erweckt er den Eindruck, als werde die Empathie mit der technischen Kommunikation gleich mitgeliefert. Da schwärmt er: »Die sich mit Hilfe des Internets und anderer Kommunikationstechnologien beschleunigende Verbindung gleichsam aller zentralen Nervensysteme schleudert uns in den globalen Raum und in ein neues gleichzeitiges Zeitfeld.« Erregt dieser Satz allein schon Schwindel, so erst recht die Vorstellung von der Vernetzung aller Zentralnervensysteme im Globus. Was kann dieses Geschleudert-Werden in der Innenwelt denn anderes bewirken als oberflächliche Berührungen statt innerer Verarbeitung?
Der von Rifkin viel zitierte Psychologe Kenneth Gergen erklärt: Das alte Lebensmotto des Descartes gilt nicht mehr, nämlich: »Ich denke, also bin ich.« Neuerdingsmüsse es heißen: »Ich bin vernetzt, also bin ich.« Entsprechend stellt Jean Baudrillard fest: »Wir existieren nicht mehr als Subjekt, sondern als ›Terminals‹ multipler Netzwerke.« Aber wo bleibt da das Ich, das sich einfühlt, das in der Einfühlung selbst
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