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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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sich nur mir selber kund gibt.«
    Aber bereits Schopenhauer erkannte als Voraussetzung dieses Gleichklanges des Einzelnen mit den Mitmenschen eine Grundeinstellung des Vertrauens – im Gegensatz zu einer Grundhaltung des Argwohns. Der Mensch des Vertrauens, von Schopenhauer als »der gute Mensch« bezeichnet, »fühlt sich allen Wesen im Innern verwandt, nimmt unmittelbar Teil an ihrem Wohl und Wehe und setzt mit Zuversicht dieselbe Teilnahme bei ihnen voraus. Hieraus erwächst der tiefe Frieden seines Innern« usw.
    Mit Joseph Weizenbaum verbindet mich die Sorge, dass dieses Gemeinschaftsbewusstsein zu schwinden droht, seit der westliche Mensch seinen religiösen Halt durch den Glauben an seine scheinbar unbegrenzbare technische Herrschaftsmacht zu ersetzen versucht. Inzwischen stützt er seine Zuversicht auf die künstliche Intelligenz, als enthielte diese eine moralische Bindungskraft. Aber die Menschheit fällt auseinander ohne die Gefühle, die keine Maschine ersetzen kann – ohne Verantwortungsgefühl, ohne mitmenschliches Vertrauen, ohne soziales Empfinden, ohne Gewissen, ohne Seele.
    In mir hat Joseph einen Partner getroffen, der von ganz anderer Sicht aus zum gleichen Resultat wie er gelangt ist. Auch Freud hing an der Vision, der Ersatz des Glaubens durch Wissen garantiere den Fortschritt, als er noch vor dem Bau der Atombombe erkannte, dass derFortschritt des Wissens zur Aneignung von Mitteln zur Selbstzerstörung der Menschheit zu führen droht. Da sah er nur die Hoffnung, dass »der ewige Eros« eine Anstrengung machen werde, sich gegen die Macht der Destruktivität zu behaupten. In mythologisierender Sprache heißt das: Hoffentlich ist in den Menschen noch genügend Liebe geblieben, um in ihnen eine unentbehrliche Friedfertigkeit zu erhalten.
    Ich begleitete, wie geschildert, den Aufbruch einer kritischen Nachkriegsjugend, die in den siebziger Jahren zur Unterstützung der Armen, der Ausgegrenzten, der Behinderten, aber auch der Gefangenen und Notleidenden bei uns und in der Dritten Welt aufbrach. Diese Jugend nannte das nicht Liebe. Aber es war Liebe, zwar mit Kampf verbunden, aber im Sinne von Willy Brandts »Compassion«, ein Kampf des »Dafür«, für Solidarität. Diese Art des Kampfes einte Joseph und mich in unserer Aufklärungsarbeit und dem Engagement in der Friedensbewegung.
    2002 trafen wir beide uns als Mitwirkende auf einem internationalen Psychotherapie-Kongress in Basel mit dem Thema »Vom Ich zum Wir«. Er hörte mir zu, als ich erläuterte, wie sich in der Psychoanalyse eine Erweiterung des individualistischen Menschenbildes Freuds zu dem Menschenbild sozialer Offenheit vollziehe, wie es Norbert Elias beschrieben hat. Für Elias spielt sich das Seelenleben nicht abgekapselt im Innern des Einzelnen ab, sondern in einem Geflecht von Persönlichkeiten, »die Zeit ihres Lebens auf andere Menschen ausgerichtet und auf andere Menschen angewiesen, von anderen abhängig sind.«
    Die soziale Reformbewegung der siebziger und die Friedensbewegung der achtziger Jahre hatten dies verstanden. Es existierte ein Bewusstsein, das Joseph beschriebenhat: Ich bin für das Ganze mitverantwortlich. So kam ich zum Beispiel, wie geschildert, zu Brandt und Gorbatschow und lernte, im Sinne von Josephs Appell, Verantwortlichkeit für das Ganze zu fühlen, wenn ich als Beauftragter der ärztlichen Friedensbewegung durch die Lande zog. Die Kraft dazu kam auch aus dem Trotz, den ich mit vielen meiner Generation teilte: Nie wieder wollen wir stillhalten, wenn Unverantwortliches um uns herum geschieht. Darin zählt Joseph mit seinem Protest gegen den Tretminen-Bau zu meinen Vorbildern.
    Oktober 2002. Drei Tage sind Bergrun und ich als »Paten« von Joseph mit diesem zusammen nach Prag vom tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel und seiner Frau Dagmar eingeladen. Eine Staatskarosse bringt uns von Gießen nach Prag, wo Joseph den Preis einer Stiftung empfängt, die Václav Havel und seine Frau gegründet haben. Zwei Tage verbringen wir zusammen mit diesem wunderbaren Präsidenten, der unter den Kommunisten Publikations- und Aufführungsverbot für seine Dramen erlebt hatte. Seine Stücke hatten die Sinnentleerung menschlicher Beziehungen in einer mechanischen Gesellschaft aufgedeckt. Mehrfach hatte man ihn als einen Sprecher der Charta 77 ins Gefängnis gesteckt. Ein bescheidener, überaus eindrucksvoller Mann. Zusammen mit ihm schlendern wir durch die Straßen der Stadt und besuchen die Burg. Feierliche

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