Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Eberhard Richter
Vom Netzwerk:
Preisverleihung für Joseph. Dann am Runden Tisch ein Gespräch über den »Mythos der Computer«, an dem außer mir auch der andere »Pate«, der Pädagoge Hartmut von Hentig teilnimmt. Ich selbst steuere eine kurze Analyse der gefährlichen Illusion bei, dass die computervermittelteKommunikation den Schwund der persönlichen Nähe Auge in Auge kompensieren könne. Eigentlich ist aber alles bereits in einem wunderbaren Brief gesagt, den Havel an Olga geschrieben hatte:
    »Nur durch das ›Du‹ (am Anfang ist dieses ›Du‹ naturgemäß die Mutter), nur durch das ›Wir‹ kann das ›Ich‹ wirklich es selbst werden – in den Augen des anderen erscheint es zuerst dem Blick ›von außen‹ und liest zum ersten Mal ›die Stimme des Seins‹. Im Angesicht der Existenz des Nächsten erfährt es zum ersten Mal seine ursprüngliche ›Verantwortung für alles‹ und wird zu dem besonderen Geschöpf, das imstande ist, mit einem Wesen zu fühlen, das ihm völlig fremd ist.«
    Es sind fast die gleichen Worte, die Martin Buber in seinem Buch Ich und Du verwendet: »Am Anfang ist die Beziehung.« »Ich werde am Du.« »Vor der Unmittelbarkeit der Beziehung wird alles Mittelbare unerheblich.«
    In den Prager Gesprächen mit Havel und Joseph geht es im Kern um das Eine: Die Welt kann nur human sein, wenn wir einander ins Antlitz schauen und dabei die Verantwortung für einander und für das Ganze spüren. Die Entleerung der Beziehung ist der Anfang von Dehumanisierung in der Massengesellschaft. Ich staune: Da ist ein Politiker in höchster Verantwortung, ein Mensch der Offenheit, hoch sensibel, gerade dadurch von einer fesselnden Eindringlichkeit und Überzeugungskraft. Es ist, als hätten sich die Tschechen diesen Mann wohlbedacht zur Reinigung von der Verdorbenheit ihres kommunistischen Zwangssystems für ein Amt auserkoren, das dieser nie angestrebt hatte. Man hatte ihn überreden müssen. Ich merke, es tut ihm wohl, in kleinem Kreis darüber zu philosophieren, was der Mensch im digitalisierten Zeitalter gewinnt, aber was er dabei auch unmerklich einbüßt. Und dazu passt dieser Joseph Weizenbaum, der einerseits den Menschen durch die Entwicklung des Computers als einer Art von technischer Prothese geholfen, jedoch sogleich die gefährliche Hörigkeitsbindung an diese Prothese durchschaut hat, die bis zur Selbstentfremdung führen kann.
    Besuch in Prag bei Václav Havel mit Joseph Weizenbaum 2002
    Die Erfinder computergesteuerter Tretminen, die Menschen die Beine abreißen, feiern mit ihrer Leistung ahnungslos den eigenen Absturz in die Unmenschlichkeit. Inzwischen haben sie sich mit den stolzen Erfindern anderer computergesteuerter Mordwaffen vereint, die zum Beispiel Raketen Sehkraft verliehen haben. Das pflanzt sich fort. So entsteht eine neue Spezies, in der jene von Havel und Weizenbaum gemeinte humane Beziehungsfähigkeit erlischt. Ich denke dabei auch immer wieder an die Verzweiflung Sacharows, Miterfinder der Wasserstoffbombe. »Wir können nicht Menschen bleiben, wenn wir diese Bedrohung nicht abschaffen.« Ähnlich quält Weizenbaum der Missbrauch der Computertechnikfür den »militärischen Wahnsinn«, den anzuprangern er nicht müde wird.
    Die Frage, ob die Humanität wieder erstarken oder weiter abnehmen wird, entscheidet sich in unserer inneren Welt, und zwar nicht zuerst
durch Verabscheuen des Verwerflichen, sondern vornehmlich durch die Kräfte des Mitfühlens und der Liebe. In seiner berühmten Rede über die »seelische
Krankheit Friedlosigkeit« sagte der Atomphysiker Weizsäcker: »Eines inneren Friedens fähig werden wir nicht durch unser Verdienst, sondern weil wir
geliebt sind und weil wir darum Gott und in Gott die Menschen lieben dürfen.« Was Weizsäcker ausspricht, geht uns heute nicht mehr leicht über die
Lippen. Demut ist ein Fremdwort geworden. Der Computer kann sogar zu einem »intellektuellen Mordinstrument« werden. Und die Schule kann durch eine
falsche Erziehung dazu beitragen. Wie? Hierüber schrieb mir Joseph Weizenbaum in einem Brief: »Die Frage, ob der Computer in die Schule gehört oder
nicht, kann nicht vernünftig beantwortet werden, solange die Prioritäten der Schule nicht deutlich bestimmt sind. Doch in den meisten
Schulgemeinschaften werden diese Prioritäten noch nicht einmal diskutiert. Die Politik steht – unter anderem wegen Pisa – unter dem Druck, den
Schulunterricht zu ›verbessern› und reagiert mit dem Schrei: ›Etwas muss geschehen!‹. Dieses ›Etwas‹

Weitere Kostenlose Bücher