Moral in Zeiten der Krise
im ganz Fremden entdeckt: Das bin ja ich! Übrigens war es vor eineinhalb Jahrhunderten bereits Schopenhauer, der erkannte: »Das Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und der echten Menschenliebe.«
Am Ende seines Buches trifft sich Rifkin jedoch fast mit meinem Freund Weizenbaum, wenn er eingesteht: »Bei der Jugend, die vor dem Bildschirm aufwächst, schrumpft der Wortschatz und damit Hand in Hand die Lesefähigkeit und die Fähigkeit zur Kommunikation.« »Die Entwicklung ist beunruhigend. In allen früheren Kommunikationsrevolutionen der Geschichte hat sich der Wortschatz vergrößert, was komplexere Gedankengänge ermöglichte und die Ausweitung der Empathie schon deshalb förderte, weil die Menschen ihre Gefühle, Absichten und Erwartungen besser ausdrücken konnten.«
Kommt den Menschen aber die Sprache dafür abhanden, was sie für und miteinander fühlen, - wie soll dann mehr Empathie wachsen? Und wie können sie mehr echte Nähe entwickeln, die ihnen die Verantwortung für einander und für die Zukunft klar macht, wenn sie ihre realen Beziehungen nicht hinreichend vor der Überschwemmung aus der virtuellen Welt schützen?
Psychische Korruption, das Klimaproblem
und die Verdrängung der Zukunft
Heimliche Verzweiflung erleben wir in der typischen Reaktion der Moderne. Die Leute leiden tatsächlich, aber stumm. Sie suchen panisch nach Mitteln, ihre innere Katastrophe zu verleugnen. Die Pharma-Industrie verspricht alles per Apotheken-Rundschau . Die Chirurgie operiert das Hässliche weg. Diäten entfernen alles, was falsch ist, aus dem Körper. Verhaltenstherapie korrigiert gestörtes Verhalten. Esoterische Trainings entführen in diverse Erlösungsträume. Zudeckende Psychotherapien haben Konjunktur. Der Leidensweg gründlicher Analyse macht vielen zu viel Angst. Denn echtes Leiden ist im Zeitgeist der Kultur des Gotteskomplexes nicht mehr vorgesehen. Es ist stigmatisiert als Versagen, Schwäche, Niederlage. So wurde die Hoffnung auf die Klimakonferenz in Kopenhagen fast klaglos zu Grabe getragen. Es gab keinen Aufruhr. Die zigtausend zum Protestieren Angereisten wirkten wie ein hilfloses Spalier. Die Wut blieb sprachlos. Die vom TV gezeigten Transparente bildeten die übliche Dekoration. Verglichen mit der Aufregung um die Acht auf dem Gipfel von Heiligendamm lag über Kopenhagen mit den über 190 versammelten Regierungschefs der Schleier trister Lähmung. Es war die Lethargie einer hilflosen Resignation und Ratlosigkeit.
Eingetreten ist ein Elend, das sich aber nicht mehr ausdrücken kann. Ich erinnere mich: Als ich einst nach Rückkehr aus Gefangenschaft dastand, physisch und moralisch ganz unten, keine Familie, kein Zuhause, dahabe ich mir – wie mir erst später klar wurde – eine philosophische Doktorarbeit über Schmerz und Leiden ausgesucht, um selbst wieder eine Sprache dafür zu finden, was in mir war. Erst die Sprache hat mir geholfen, mich wieder aufzurichten.
So ähnlich sieht es jetzt etwa in der gemeinsamen Innenwelt aus. Es wäre ja schön, wenn Sloterdijk Recht hätte mit seiner Annahme, dass uns eine Art Renaissance bevorstehe, ein »Zeitalter der multipolaren Ingenieursintelligenz vom Typ Buckminster Fuller«. Sloterdijk sagt: »Die Menschheit sitzt auf einem Berg an Lösungen, doch es fehlt noch an hinreichend motivierten Anwendern, die den Berg abtragen, indem sie die Intelligenzreserven in die tägliche Praxis überführen.« (Interview am 21. 12. 2009 in der SZ ).
Doch die Motivation ist ja das Problem. Es ist nicht lange her, als ich genau wie Sloterdijk erlebte, wie Andrea Ypsilanti im Land Hessen dicht davor war, eine humanistische Politik mit einer radikalen Ökowende zusammen mit Hermann Scheer einzuleiten. Das Wahlvolk strömte ihr zu. Doch der Machtblock der Energiekonzerne zerstörte mit Hilfe der eigenen Parteispitze in Berlin die Hoffnung. Das Brodeln an der Basis zeigte immerhin: Energien für einen großen Umschwung stauen sich im Untergrund an. Doch noch fehlt das Einvernehmen zum großen Durchbruch, vor allem der Mut zum Kämpfen.
30 Jahre hat die Klimaforschung getrommelt. Immer wieder haben sich ihre unerfreulichen Voraussagen aus der Studie Global 2000 bestätigt. Was sagt sie zu dem Desaster von Kopenhagen? Die Süddeutsche Zeitung befragt Prof. Hans-Joachim Schellnhuber, Leiter desPotsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Ihn deprimieren der Zustand der Welt und die Zukunftsaussichten, wenn er an seinen kleinen Sohn denkt.
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