Moral in Zeiten der Krise
ist dann die Einführung des Computers im
Klassenzimmer. Ich frage jedoch: Was ist denn die höchste Priorität der Schule? Und handelt die Schule entsprechend? Die allerhöchste Priorität der
Schule muss sein, den Kindern ihre eigene Sprache beizubringen, so dass sie sich klar unddeutlich artikulieren können – sowohl
mündlich als schriftlich. Menschen, die diese Fähigkeit besitzen, können auch kritisch lesen und hören. Sie sind in der Lage, die Signale, die sie
erreichen, kritisch zu interpretieren. Menschen, die das hingegen nicht können, sind leichte Beute für jede Form der Propaganda und Irreführung. Ich bin
überzeugt, dass die meisten Schulen in den industrialisierten Ländern ihre Aufgaben in diesem Sinne nicht erfüllen und zum großen Teil eine Jugend
erziehen, die nicht kritisch denken kann. Sie ist dazu verurteilt, in ihrer zukünftigen Arbeit ihre Maschinen sklavisch zu bedienen und ihre Freizeit
mit dem Saugen an den Brüsten der Vergnügungsindustrie zu verschwenden. Computer in den Händen von Kindern, die noch nicht die Reife haben, Relevantes
von Entertainment zu unterscheiden, denen ein blinder Glauben in das, was der Computer – zum Beispiel Google – ihnen ›sagt‹, eingeprägt ist, die
glauben, dass Lesen eine bloße Sammlung von ›Fakten‹ bedeutet und eine Geschichte zu verstehen lediglich heißt, sagen zu können, was in der Geschichte
passiert – kurz: ein Instrument, so angewendet, ist ein intellektuelles Mordinstrument . Und so ist der Computer meistens eingeordnet in einer
Kultur, die versucht, Education, also Erziehung, durch Edutainment zu ersetzen. Dort, wo der Schulhaushalt für die Bibliothek gestrichen wird, um den
Computereinsatz zu finanzieren, ist die Zukunft der Schüler ernsthaft gefährdet.«
Fortan erlebe ich den Freund verschiedentlich noch als Mitstreiter in der Friedensbewegung, in einem TV -Gespräch und bei privaten Treffen. September 2007 sagt ihm der Arzt, dass er mit einem unheilbaren Krebs nur noch wenige Monate zu leben haben werde. Darauf unternimmter noch eine Seereise auf einem Frachter in den Norden, redet in zwei Schulen und nimmt aktiv an dem Weltwirtschaftsforum in Davos teil. Auch seinen letzten großen Wunsch kann er sich erfüllen: seinen 85. Geburtstag mit Angehörigen und Freunden in geistiger Frische zu feiern. Wenige Tage danach stirbt er. In meiner Trauerrede im jüdischen Gemeindezentrum Berlin lese ich die Schlussworte aus einem Vermächtnis vor, das er seinen engsten Vertrauten hinterlassen hat: »Gott gibt es, denn Gott ist Liebe, und Liebe ist in uns allen. Das Gebet ist die Suche eines Menschen, seine innere Liebe zu finden.«
Mit Joseph habe ich den letzten engen Freund meiner Altersgruppe verloren. Er war mir, neben unserer persönlichen Verbundenheit, außerordentlich wichtig als kritischer Repräsentant der technischen Revolution, der dieser unbeirrbar die Bedürfnisse der seelischen Innenwelt entgegenhielt, die nach wie vor das Maß für unser humanes Weiterleben setzen muss. So hatte uns einst sein Eliza -Projekt zusammengeführt: Die Maschine kann niemals den Menschen verstehen. Und der Mensch kann in der Maschine nicht finden, wozu er da ist, wofür er Verantwortung trägt, was ihn mit dem anderen Leben verbindet.
Joseph war neugierig zu erfahren, was die Psychoanalyse von der Innenwelt versteht. Und der Psychoanalytiker musste bekennen, dass er erst im Begriff ist, die Wissenschaft vom Unbewussten vom »Ich« auf das »Wir« auszudehnen, um zum Beispiel die selbstverursachten Krisen in der Klimavorsorge und im Weltfinanzsystem besser zu begreifen.
Aber beiden war uns jederzeit klar, dass wir Erkennenund verantwortliches Engagement verbinden müssen. Erst durch kritische Einmischung haben wir erfahren, wozu wir in einer Zeit anstehenden großen Wandels da sind.
Wandel, das heißt zum Beispiel für Männer und Frauen, umzulernen und zu erkennen, dass die Selbstverwirklichung im eigenen Geschlecht übergehen muss in eine neue gemeinsame Selbstverwirklichung. Wir müssen uns selbst zusammen mit unseren Kindern verändern und diesen, anstatt sie an die falschen Verhältnisse optimal anzupassen, genügend Freiraum für kreative Ideen und Visionen belassen, damit sie die Welt, die bald ihre Welt sein wird, gesünder machen.
Gesünder bedeutet, den Gedanken von Carl Friedrich von Weizsäcker aufzugreifen, dass wir es bei der Unfriedlichkeit in der heutigen Gesellschaft mit einer Art von psychischer Krankheit zu tun haben,
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