Mord am Niddaufer - ein Kriminalroman
du der Lilie antust, das tust du auch demjenigen an, für dessen Leben sie gerade steht, im Guten wie im Bösen.“
Obwohl der Körper, der auf dem vierten Stuhl mit Seilen festgebunden war, keinen Kopf auf sich trug, war sich Bohlan sicher, wessen Leib dort saß. Nachdem er seinen ersten Schock überwunden hatte, rief er im Präsidium an und orderte das volle Programm: Rechtsmedizin, Spurensicherung und Schutzpolizei. Letztere um die Aula großflächig abzusperren. Als nächstes verständigte er seine Kollegen. Erst nachdem er Steinbrechers Stimme vernommen hatte, schaffte er es, den Platz, auf dem er die ganze Zeit gestanden hatte, zu verlassen. Er verließ die Aula und setzte sich auf einen der Stühle, die im Foyer standen. Klaus von Lichtenhagen stieg in sein Auto und schloss die Tür. Er hatte in der Josephskirchstraße geparkt. Entlang der Einfassung zum Schulhof verlief ein Parkplatzstreifen. Er schaute durch die Windschutzscheibe, ohne wirklich nach draußen zu sehen. Seine Konzentration war mehr auf sein Inneres gerichtet. Er atmete langsam ein und aus. So, wie er die Situation in der Schule einschätzte, steckte seine Frau wirklich in der Bredouille. Eigentlich müsste er ihr raten, den Job hinzuschmeißen. Die Fronten waren derart verhärtet, dass es Jahre dauern würde, sie aufzubrechen. Eine Aufgabe, die eigentlich nicht zu schaffen war. Doch er wusste, dass es sinnlos war, Annette diesen Rat zu geben. Dafür war sie zu verbissen, zu ehrgeizig und auch viel zu eigensinnig. Sie wollte da durch, mit dem Kopf durch die Wand, wie es schon immer ihre Art war. Er hatte sich in den letzten Wochen einige Gedanken gemacht, wie er die Situation retten konnte, doch ein klarer Plan war nicht entstanden. Anfangs hatte er gehofft, dass die Morde seiner Frau zupasskommen könnten. In Krisensituationen hat der Machthaber, wenn man den Schulleiter als solchen bezeichnen konnte, die Vorteile auf seiner Seite. Er kann mit einem geschickten Krisenmanagement die Sympathien auf sich ziehen. Doch Annette schien auch dazu nicht in der Lage zu sein und das Kollegium war gegen ihre plumpen Versuche immun. Als letzte Chance sah er eigentlich nur die Möglichkeit, seine Frau nach oben wegloben zu lassen. Eine Stelle im Schulamt oder sogar im Ministerium könnte die Rettung sein. Er hatte schon erste Vorgespräche mit einigen einflussreichen Freunden geführt. Die Lage schien gar nicht so aussichtslos, wie er zunächst befürchtet hatte. Er steckte den Schlüssel in das Zündschloss und startete den Wagen. Als er zur Hälfte aus der Parklücke draußen war, bog ein Polizeiauto um die Ecke. Von Lichtenhagen beeilte sich, ins Büro zu kommen. Er wollte unter allen Umständen vermeiden, in die Ermittlungen hineingezogen zu werden.
„Tom, was ist passiert?“, schrie Julia Will, als sie um die Ecke bog und den Kommissar wie einen Wachmann vor der Aulatür sitzen sah. Ihre Hand war der Türklinke gefährlich nahe, als Bohlan zu sprechen begann.
„Mach dich auf einiges gefasst.“
Will blickte Bohlan mit einer Mischung aus Unverständnis und Wissensdurst an.
„Wir haben versagt, Julia. Dort drin sitzt das nächste Opfer des Kopfjägers. Wir haben nicht verhindert, dass er zum dritten Mal zugeschlagen hat.“
„Wer ist es?“ Will starrte auf den weiter regungslosen Kommissar und wartete auf eine Erklärung. Als diese nicht kam, wandte sie sich ab und drückte die Klinke nach unten. Die Tür sprang knarrend auf. Will starrte, ungläubig und ergriffen zugleich, auf die Bühne. Erst, als sich eine Hand auf ihre Schultern legte, zuckte sie zusammen.
„Wenn mich nicht alles täuscht, dann ist es Andreas Fischer“, sagte Bohlan.
„Was ist das für ein Zettel?“, fragte Will und deutete auf ein kleines Stück Papier, das auf einem Stuhl in der ersten Reihe lag.
„Keine Ahnung“, sagte Bohlan lakonisch. „Schau nach.“
Will hatte sich bereits gelöst und war zwei, drei Schritte auf den Stuhl zugegangen. Nachdem sie den Zettel studiert hatte, sah sie Bohlan düster an, um einen erneuten Blick auf das Blatt Papier zu werfen. Es kam Bohlan wie eine halbe Ewigkeit vor. Dann folgte die von Bohlan herbeigesehnte Reaktion. Wills Mund öffnete sich und sie las vor: „Schau in die Vergangenheit, wenn du die Gegenwart verstehen willst.“
Das Getrampel, das aus dem Treppenhaus in die Aula hallte, kündigte das Eintreffen der angeforderten Kollegen an. Will steckte den Zettel in eine Plastiktüte und ließ beides in ihrer Tasche
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