Mord am Niddaufer - ein Kriminalroman
überschaubar ist, dachte Will. Sequenzartig tauchten einige Erinnerungen aus ihrer Schulzeit vor ihrem inneren Auge auf. Sie musste an Kai denken, ihre große Liebe aus der Mittelstufe. Was wohl aus ihm geworden war?
„Haben Sie vielleicht Feuer?“
Will blickte zur Seite und starrte in das Gesicht eines Schülers. Er war vielleicht achtzehn, groß gewachsen, hatte dunkle Haare, die ihm fast bis über die Augen ragten. Für einen Moment war sie sich nicht sicher, ob das nun Erinnerung oder Realität war. Merkwürdig, wie sich manchmal die Zeiten verwischen können.
„Äh, nein. Tut mir leid.“
„Macht nichts.“ Der Schüler wandte sich ab, um nach anderweitiger Hilfe Ausschau zu halten. Will musterte ihn und dann fiel ihr das Bild ein, dass sie im Präsidium an das Whiteboard geheftet hatte.
„Moment mal.“
Der Schüler drehte sich um. „Ja.“
„Julia Will. Ich bin von der Kripo.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
„Ich weiß“, antwortete der Schüler. „Tobias.“
„Sie waren doch letzten Samstag im Main-Taunus-Zentrum.
Tobias schien nachzudenken. „Schon möglich. Warum wollen Sie das wissen?“
„Was haben Sie da gemacht?“
„Shoppen, was sonst!“
„Nur Shoppen?“
„Ja, neues iPhone.“
Gar nicht mal so ungeschickt der Kerl, dachte Will. „Sie haben schon das neue iPhone? Kann ich das mal sehen?“
Tobias zögerte einen Moment und trat von einem Bein auf das andere.
„Warum?“
„Nur so. Ich überlege auch, ob ich mir eins zulegen sollte.“
„Hab’s nicht dabei.“
„Ach komm. Sie kaufen doch nicht ein neues iPhone, um es zu Hause liegen zulassen.“
„Also gut. Ich habe keins gekauft. Wollte nur mal gucken.“
Jetzt sitzt er in der Falle, dachte Will und war ein wenig stolz auf sich.
„Sie waren gar nicht im Apple Store.“ Will machte eine Pause und musterte ihn. Und dann entschied sie sich, zu pokern. „Sie waren im Hollister. Ich habe gesehen, wie Sie rein gegangen sind.“
„Kann sein. Und wenn schon?“
„Und Sie waren nicht da, um etwas zu kaufen, sondern um sich mit Natascha zu treffen, stimmt`s?“
Tobias schaute etwas betreten auf den Boden.
„Na gut. Sie haben recht“, druckste er hervor.
„Sehr schön, Tobias. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir gehen in die Cafeteria. Ich spendiere einen Kaffee und Sie erzählen mir ein wenig über Natascha?“
Es war bereits Nachmittag, als Bohlan und Will die Ziegenhainer Straße erreichten. Bohlan parkte den Wagen in einer Parkbucht und stellte den Motor ab. Seitdem er die Leiche von Andreas Fischer in der Aula der Willi-Brandt-Schule gefunden hatte, waren knapp drei Stunden vergangen, die er vor allem damit zugebracht hatte, die Arbeit von Spurensicherung und Gerichtsmedizin zu beobachten und über den Wortlaut des gefunden Zettels zu sinnieren. Lediglich die Reflektion über das mit Annette von Lichtenhagen geführte Gespräch hatte ihn dann und wann von diesen beiden Beschäftigungen abgelenkt. Immer wieder waren einzelne Gesprächsfetzen in seinem Gedächtnis aufgetaucht, ohne dass sich der Kommissar einen wirklichen Reim auf das Verhalten der Schulleiterin machen konnte, deren Stimmung zwischen Arroganz und Ernüchterung minütlich zu schwanken schien. Nun stand der nächste schwierige Schritt bevor: die Information der Ehefrau. Eine Aufgabe, die Bohlan sonst nur allzu gerne vor sich herschob, aber diesmal selbst übernommen hatte. „Dann wollen wir mal“, sagte Bohlan und warf einen flüchtigen Blick zum Beifahrersitz, auf dem Julia Will saß. Auch sie schien ihren Gedanken nachzuhängen.
„Warte noch kurz“, sagte sie, während sie die Sonnenblende hinunterklappte und sich im Spiegel betrachtete. Sie hob ihre Tasche an, die im Fußraum gestanden hatte, und kramte einen Lippenstift hervor. Bevor sie dazu ansetzte, das Rot ihrer Lippen etwas nachzuziehen, sagte sie: „Ich habe den Jungen gefunden, der uns im Main-Taunus-Zentrum über den Weg gelaufen ist, erinnerst du dich?“
Bohlan zuckte kurz mit den Schultern.
„Er heißt Tobias und geht in die zwölfte Klasse. Genau wie Lea und Natascha. Er war an diesem Samstag auf dem Weg zu Natascha, wollte etwas mit ihr bequatschen.“
„Woher weißt du das?“
„Ich habe ihn auf dem Schulhof getroffen und dann mit ihm einen Kaffee getrunken, bevor ich zu dir in die Aula gekommen bin.“
„Und?“
„Er arbeitet auch in der Redaktion der Schülerzeitung und hat erzählt, dass Lea an irgendeiner dubiosen Geschichte dran gewesen
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