Mord am Oxford-Kanal
obwohl die Straße schon gar nicht mehr existierte.
Unterhalb des Schildes öffnete sich ein hölzernes Tor, das windschief in seinen
verrosteten Angeln hing, auf einen schmalen Weg, der am Haus entlang zu einem
verwahrlosten Hinterhof führte. In einer von Unkraut überwucherten Ecke
entdeckte Morse ein altes Dreirad und daneben den noch ziemlich neu aussehenden
Einkaufswagen einer Supermarktkette. Die schmutzigroten Ziegel der Außenmauer
waren an vielen Stellen schon bröckelig, und der Rahmen des einzigen Fensters
war herausgerissen, so daß Wind und Regen ungehindert ins Innere dringen
konnten. Morse steckte neugierig den Kopf in die leere Fensterhöhle, zog ihn
aber schnell wieder zurück, weil ihn Übelkeit zu übermannen drohte: In einer
Ecke des winzigen Raumes, der offenbar einmal die Küche gewesen war, lag ein
Kothaufen, unmittelbar daneben schimmelte ein halbes Toastbrot vor sich hin.
«Kein besonders appetitlicher
Anblick, was?» bemerkte Lewis, der Morse über die Schulter geblickt hatte.
«Hier ist sie also
aufgewachsen», sagte Morse leise. «Hier hat sie gelebt, mit ihrer Mutter... und
ihrem Vater...»
«...und ihrem Bruder», ergänzte
Lewis.
«Ja, richtig!» Daran hatte
Morse gar nicht mehr gedacht, Joanna hatte ja einen jüngeren Bruder gehabt, der
nach seinem Vater benannt worden war, Daniel Carrick junior.
Zögernd verließ Morse den
schäbigen kleinen Hof und ging langsam wieder zurück zur Straße. Hier blieb er
stehen und betrachtete nachdenklich das Haus, in dem Joanna Franks, verwitwete
Donavan, geborene Carrick, die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens verbracht
hatte. Morse vergegenwärtigte sich noch einmal die relevanten Daten: geboren
1821, 1842 Heirat mit Donavan. Es irritierte ihn, daß an keinem der Häuser
irgendwo das Baujahr zu entdecken war, sei es als Plakette oder in Stein
gemeißelt. Und selbst wenn sie irgendwann um das Jahr 1820 gebaut worden waren,
hatte Joanna dann tatsächlich hier ihre Kindheit verbracht, versucht, in der
engen Küche zwischen Spülbecken, Waschkessel, Mangel und Kochherd irgendwo
einen Platz zum Spielen zu finden? Morse selbst hatte lebhafte Erinnerungen an
eine ähnlich enge Küche. Er hatte gehört, daß das Haus inzwischen abgerissen
war, um Platz zu machen für ein Teppichgeschäft. Aber er hatte auch nie
Sehnsucht gehabt, es wiederzusehen. Zurückzugehen brachte nichts, das Leben
ging weiter, und man war schnell vergessen. Die Party im Schwesternheim fiel
ihm wieder ein. Dorthin zu gehen hatte ihm auch nichts gebracht, genausowenig,
wie es ihm etwas bringen würde, bei der Derby Royal Infirmary vorbeizufahren
(wie er es eigentlich vorgehabt hatte), um einer erstaunten Nessie beiläufig zu
erklären, daß er zufällig in der Stadt sei und nur kurz habe vorbeischauen
wollen, um ihr zu ihrer neuen Stellung als GROSSER WEISSER BOSS zu
gratulieren...
Während er so seinen Gedanken
nachhing, hatte Lewis ununterbrochen auf ihn eingeredet, und erst als der
Sergeant ihn fragend ansah, wurde Morse bewußt, daß er kein Wort davon
mitbekommen hatte.
«Entschuldigung... Was haben
Sie gesagt, Lewis?»
«Ich sagte, daß wir uns zu
Hause an die Wand stellen mußten, dann bekamen wir ein Lineal über den Kopf,
mein Vater oder meine Mutter zogen einen Strich, und daneben wurde das Datum
notiert.»
Morse hatte keine Ahnung, was
sich der Sergeant da zusammenphantasierte, nickte aber verständnisinnig und
ging in Richtung Wagen. Eine große, mit weißer Farbe an eine der Häuserwände gespritzte
Aufschrift ließ ihn einen Moment stehenbleiben: «HÄNDE WEG VON CHILE!» Morse
schüttelte den Kopf. Er konnte sich wirklich nur schwer vorstellen, daß
irgendeiner der Bewohner dieser schäbigen Straße eine solche Mahnung nötig
gehabt hätte. «VERSUCHEN SIE LUMLEY’S TEE, EIN HALBER PENNY!» schien ihm da
schon mehr Sinn zu machen. Der Schriftzug stand grau (früher wohl einmal blau)
vor einem ockerfarbenen Hintergrund und schien sehr alt zu sein. Womöglich
hatte schon Joanna ihn gesehen, dachte Morse, wenn sie die Straße hinunter zur
Schule ging oder hier draußen spielte. Aber auch dieser Gruß aus der
Vergangenheit würde bald verschwunden sein, ausgelöscht, wenn erst die
Bauarbeiter mit ihrer Abrißbirne hier auftauchten und die Mauer unter der Wucht
ihres Schlages in sich zusammenbrechen würde.
Genau wie die Oxforder Mauern
in sich zusammengebrochen waren, weil es den Vandalen im Rathaus so gefallen
hatte.
Vergiß es!
«Und wohin jetzt,
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