Mord an der Mauer
verursacht worden sind – routiniert, wie es sich für einen versierten Pathologen gehört.
Auf der anderen Seite der Mauer weitet sich die Empörung bereits gegen Mittag zu öffentlichen Protesten aus. In der Sackgasse der Charlottenstraße skandieren rund 500 West-Berliner: »Mörder, Mörder«. Gegen 17 Uhr halten mehrere Hundert Menschen den Bus der Roten Armee auf, der jeden Tag um diese Zeit über den Checkpoint Charlie sowjetische Soldaten zur Wachablösung ans Ehrenmal im Tiergarten bringt. Es fliegen Steine, zwei Scheiben bersten. Nur in Begleitung zweier Funkstreifenwagen kann der Bus seine Fahrt fortsetzen. Gegen 23:50 Uhr stellt die Polizei ein Transparent mit der Aufschrift »Schutzmacht? Morddulder = Mordhelfer« sicher und nimmt die beiden Männer fest, die es tragen. Die simple Gleichung zeigt, dass sich die Wut nicht mehr nur gegen das SED-Regime richtet, sondern auch gegen die Schutzmächte. Ihr Zögern hat einen empfindlichen Nerv getroffen. Der Tagesspiegel kommentiert: »Im Kriege war es für Soldaten eine Ehrensache, Verwundete, die direkt vor der eigenen Stellung lagen, notfalls unter Feuerschutz zu retten. Es kam auch manchmal zur gegenseitigen Feuereinstellung, wenn es darum ging, Tote und Verwundete zu bergen. Sollte das, was selbst in Kriegen an Menschlichkeit möglich war, im ummauerten Berlin von 1962 nicht mehr möglich sein?«
Noch glauben der Senat und die westlichen Alliierten, das Grollen und den offenen Protest verbal eindämmen zu können. Am 19. August warnt Willy Brandt den Osten über das Radio: Niemand solle sich darüber im Unklaren sein, »dass es Grenzen dessen gibt, was wir zu ertragen vermögen«. Ein Sprecher der US-Mission versichert: »Wir bemühen uns, einen Weg zu finden, damit bei einer Wiederholung eines solchen Vorfalles den Opfern der ostdeutschen Brutalität geholfen werden kann.« US-Stadtkommandant Albert Watson schickt einen Brief an die Sowjets, in dem er von einem »Akt barbarischer Unmenschlichkeit« spricht. Abends gegen 22 Uhr versucht Brandt, etwa 5000 Menschen vor dem Rathaus Schöneberg von einem Lautsprecherwagen aus zu beschwichtigen. In den nächsten Tagen schon würden Maßnahmen ergriffen, »um solche schrecklichen Geschehnisse wie den Tod Fechters künftig unmöglich zu machen«. Zu den Ausschreitungen meint er, man helfe den Landsleuten im Osten nicht, »wenn wir die Existenz West-Berlins leichtfertig aufs Spiel setzen«. Deshalb beschwört er seine Zuhörer: »Lasst euch nicht hinreißen, das macht der anderen Seite nur Freude.« Auf Zwischenrufe wie »Handeln, handeln« oder »Das Maß ist voll« erwidert Brandt: »Ich will gern handeln, aber ich kann nur handeln in Zusammenarbeit mit unseren westlichen Freunden.«
Viele Zuhörer kann Brandt überzeugen. Sie formieren sich, zusammen mit Passanten und Kinobesuchern, zu einem eindrucksvollen Protestzug den Kurfürstendamm entlang, 20000 Menschen marschieren in breiter Front untergehakt friedlich über die Straße. Ihre Ungeduld zeigt ein Plakat mit der Frage: »Wie viel Morde noch?« Andere sind enttäuscht, denn sie stellen sich die Reaktion der Verantwortlichen anders vor. In Briefen schlagen Bürger »energische Maßnahmen« vor, etwa den Befehl an West-Berliner Polizisten, Flüchtlingen Feuerschutz zu geben. Manche gehen noch weiter: Am 20. August morgens rufen West-Berliner Bürgermeister Brandt zu: »Willy, wir brauchen Waffen!« Ein Geschäftsmann fordert, unverzüglich Maschinenpistolen und Schnellfeuergewehre zu beschaffen, dann würden Demonstranten, von US-Panzern unterstützt, die Mauer niederreißen. Leser der Morgenpost fordern, den Interzonenhandel zu stoppen und dem Osten keinen Pfennig Kredit mehr zu gewähren. Andere belassen es nicht bei Vorschlägen. Einige West-Berliner erstatten Strafanzeige gegen General Watson – wegen unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge. US-Soldaten werden in ihren Jeeps mit Steinen beworfen, ausgepfiffen, mit Fäusten bedroht. Da verlieren die Militärs die Geduld und treiben die Demonstranten mit aufgepflanztem Bajonett zurück. Erstmals seit Kriegsende kommt es in West-Berlin zu Handgreiflichkeiten mit alliierten Soldaten.
Die Polizei kann solche Zusammenstöße nicht verhindern, denn das Areal entlang der Mauer ist viel zu groß, um es komplett abzusperren. Außerdem gibt es zu viele Brennpunkte. So durchbrechen Gruppen vor allem Jugendlicher in der Köthener, der Stresemann- und der Wilhelmstraße sowie am Moritzplatz
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