Mord an der Mauer
Polizeisperren, Steine fliegen. DDR-Grenzposten reagieren mit Wasserwerfern und Tränengas, und als West-Berliner Polizisten die Granaten wieder zurückwerfen, kommt es zu einem regelrechten »Tränengas-Duell«. Sogar der Verbindungsmann des Innensenators zur Polizei wird am Kopf getroffen. Die Welt stellt fest: »Selten war die Erregung der Massen seit dem 13. August 1961 so groß wie in diesen Tagen.« Wie vielseitig der Protest ist, dokumentiert das Ost-Berliner Polizeipräsidium akribisch. Hupkonzerte, Beschimpfungen von Posten, Luftgewehrattacken und Plakate gegen SED-Chef Walter Ulbricht mit der roten Aufschrift »Knallt doch erst mal euren Spitzbart ab« bewertet der Rapport als »Provokationen«. In die gleiche Kategorie gehört auch, dass irgendjemand acht druckfrische Exemplare der BZ über die Mauer wirft.
Willy Brandt und sein Innensenator weisen die Beamten an, hart durchzugreifen. Die Polizei errichtet rund um den Tatort eine 100 Meter breite Sperrzone. Stacheldrahtrollen werden ausgelegt, Wasserwerfer bereitgestellt und die Einsatzkräfte verstärkt, Rekruten in Alarmbereitschaft versetzt. Der 20-jährige Hartmut Moldenhauer gehört zur 2. Abteilung der Bereitschaftspolizei und befindet sich erst seit dem 2. Mai 1962 in der Ausbildung. Der junge Beamte ist in der DDR aufgewachsen, im kleinen Ort Zarrentin im Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze. Angesichts der politischen Verhältnisse ist er mit seiner Familie zu Verwandten nach West-Berlin gezogen – noch vor dem Mauerbau. Deshalb kann er Peter Fechter verstehen, sein Schicksal interessiert Moldenhauer wie alles, was mit dem Osten zu tun hat. Doch auch die Kollegen ohne Ost-Vergangenheit beschäftigt und berührt das Schicksal Peter Fechters. Mancher fragt sich, ob Fechter noch leben könnte, wenn man ihm rechtzeitig medizinisch geholfen hätte.
Am Abend des 20. August wird Moldenhauers Einheit alarmiert und zum Checkpoint Charlie verlegt; es ist sein erster Einsatz überhaupt. Ihr Fahrzeug wird schon an der Siegessäule mit Steinen beworfen. In der Kochstraße sitzen sie ab, die Anweisung des Vorgesetzten ist unmissverständlich: »Gummiknüppel in die Hand! Das ist keine Lakritzstange, der ist zum Reinhauen da.« Hartmut Moldenhauer hört den Lärm an der Mauer und sieht Menschen, es sollen fast 3000 sein. Doch er hat Glück – er bleibt in der Reserve und muss nicht »reinhauen«. Moldenhauer denkt: »Eigentlich hättest du auch auf der anderen Seite stehen können.« Aber er trägt nun einmal Uniform, für die Attacken auf seine Kollegen fehlt ihm jedes Verständnis. Bei den handgreiflichen Auseinandersetzungen werden 15 Beamte verletzt – ihre Blessuren reichen von Platzwunden am Kopf über Schürfwunden im Gesicht bis hin zur Magenprellung.
Wie aufgewühlt die Stimmung ist, berichtet IM »Otto Bohl«. Der Kriminalbeamte Karl-Heinz Kurras gehört zu den wichtigsten Quellen der Stasi bei der West-Berliner Polizei. Er verfasst einen Bericht und schickt ihn an eine Deckadresse der Stasi. Normalerweise trifft er sich mit einer Kurierin, doch der letzte reguläre Treff hat gerade erst am 14. August stattgefunden, der nächste ist für Mitte September verabredet. Um seinen Führungsoffizier dennoch schnell über die Innensicht der West-Berliner Polizei zu informieren, schickt der Spitzel ungeachtet des Risikos einen getippten Bericht, versteckt im Umschlagfutter eines unverdächtigen Briefs. Kurras schreibt von der Erregung unter den Beamten, der Strafanzeige gegen General Watson und dass sogar Polizisten dieses Vorgehen gegen den obersten Repräsentanten der »Besatzer« unterstützen.
Am 21. August kehrt in West-Berlin urplötzlich wieder Ruhe ein. Zwar werden insgesamt 128 Personen kurzzeitig in Gewahrsam genommen, doch gibt es keine Straßenschlachten mehr. Als habe jemand einen Schalter umgelegt, ändert sich die Stimmung. Der Landesjugendring, der Ring politischer Jugend und der Arbeitskreis Studenten appellieren in einem gemeinsamen Aufruf, Disziplin und politische Reife zu zeigen. Die Gewerkschaft ÖTV bittet um Unterstützung der Kollegen von der Polizei bei ihrer »wenig beneidenswerten Arbeit«. Auf Transparenten steht nun: »Demonstriert gegen KZ-Wächter, nicht gegen Polizisten und Amerikaner!« Auch die Zeitungen schlagen besonnenere Töne an. So schreibt der Tagesspiegel : »Die Enttäuschung über die ausgebliebene Hilfeleistung an der Mauer darf nicht dazu führen, dass der Verbrecher vergessen wird, der das
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