Mord an der Mauer
nach neun Uhr am Morgen des 17. August 1963 legen der Regierende Bürgermeister Willy Brandt und US-Stadtkommandant General James H. Polk Kränze am Mahnmal nieder. Ihnen schließen sich Abordnungen der Parteien und anderer Organisationen an. Bürger dürfen bis 17 Uhr gedenken. Je zwei Angehörige der Bereitschaftspolizei und des West-Berliner Freiheitsbundes halten in dieser Zeit Ehrenwache, in den Schalen von vier schwarz umkleideten Pylonen brennt den ganzen Tag über Feuer. Die der Architektur des alten Ägyptens nachempfundenen viereckigen Säulen sind etwa fünf Meter hoch und überragen die Mauer um einiges. Auch Fechters älteste Schwester Lieselotte erscheint abermals mit einem Blumenkranz für ihren Bruder. Bis zum Nachmittag werden fast 6000 Besucher gezählt. Sogar in den USA wird des Toten gedacht. Der Vorsitzende der Demokratischen Partei, William H. McKeon, schreibt, Fechter werde »für uns ein Symbol des ewigen Kampfes für eine demokratische Lebensordnung und ein unvergessenes Beispiel bleiben«.
Die West-Berliner Polizei achtet wie schon am 13. August penibel auf die Einhaltung des Demonstrationsverbots. Am Jahrestag des Mauerbaus hatte sich eine Gruppe von 30 Personen am Denkmal versammelt, »Die Mauer muss weg!« gerufen und die Aufforderung der West-Berliner Polizei ignoriert, sich von der Sperrmauer zu entfernen. Erst ein Platzregen konnte die Gruppe vertreiben. Nun, vier Tage später, sind Koch- und Friedrichstraße weiträumig mit rot-weißen Eisenbarrieren abgesperrt, die durch Stacheldraht verstärkt werden. Der U-Bahnhof Kochstraße bleibt geschlossen. Nur BVG-Bussen, Taxen und Pressefahrzeugen ist die Durchfahrt gestattet, der restliche Verkehr wird umgeleitet, Anwohner müssen sich ausweisen. Die Bevölkerung gibt sich damit keineswegs zufrieden. Am Abend löst ein Einsatzkommando der Polizei eine Gruppe von etwa 80 Demonstranten auf, die schweigend durch die Innenstadt läuft. Im Vergleich zum Vorjahr bleibt es jedoch ruhig.
Knapp zwei Monate nach Fechters erstem Todestag weilt Konrad Adenauer in der Stadt; es ist seine Abschiedsreise als Bundeskanzler. Im Plenarsaal des Schöneberger Rathauses wird ihm die Ehrenbürgerschaft West-Berlins verliehen. Zuvor legt er einen Kranz am Ehrenmal für Fechter nieder.
Auf der anderen Seite der Mauer, im Osten, wird weiterhin jedes öffentliche Gedenken unterdrückt, es muss im Stillen stattfinden, zum Beispiel in der Familie Fechter selbst. Sie hat nach dem Tod von Peter zunächst versucht, halbwegs normal weiterzuleben. Doch das ist nicht gelungen. Auch ein Jahr später leidet die Familie noch immer unter dem Verlust des einzigen Sohnes und der unverminderten »Fürsorge« des Staates. Stasimitarbeiter sitzen scheinbar teilnahmslos mit einer Zeitung in der Hand auf den Bänken des Friedhofs und registrieren jeden Besucher am Grab. Unbekannte müssen sich ausweisen. Frisch gepflanzte Blumen sind am folgenden Tag oft herausgerissen oder ganz verschwunden. Ruth Fechter bekommt Probleme in der Schule, und Gisela Geue hat nach ihrer Kündigung weder eine Arbeit gefunden noch einen Platz für die Betreuung ihres Sohnes. Die Geues müssen allein vom Gehalt des Mannes leben. Vor ihrer Wohnung und jener der Eltern Fechter stehen Tag für Tag unbekannte Autos, deren Insassen beobachten, was passiert.
Derlei und weitere Schikanen lassen sich nur schwer ertragen. Die Familie feiert zwar weiter Geburtstage, doch es fehlt die Ausgelassenheit von früher. Wenn es geht, werden Gespräche über Peter vermieden, aber in Gedanken ist er ständig präsent. Noch immer quält die Familie die Frage danach, warum Peter flüchten wollte und warum sie von seinen Plänen nichts bemerkt und erfahren hat. Sie erinnert sich nicht, dass er sich über das Leben in der SED-Diktatur beschwert hätte. Natürlich hat er manchmal über die Enge in diesem Staat geklagt. Deswegen aber gleich alles stehen und liegen lassen? Der Entschluss müsse spontan gekommen sein, trösten sich die Hinterbliebenen: »Da sagt einer von den Freunden: ›Komm, lass uns abhauen!‹ Wie das so kommt.« Doch wer könnte ihn angestiftet haben? Helmut Kulbeik? Die ohnmächtige Gewissheit, darauf keine zufriedenstellende Antwort finden zu können, belastet die Fechters zusätzlich. Trost sucht vor allem Mutter Margarete auf dem Friedhof. Wann immer es geht, besucht sie Peters Grab. Sein Mahnmal kennt die Familie aus dem Westfernsehen.
Der SFB ist auch im April 1964 in der Zimmerstraße
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