Mord an der Mauer
fröhlich.
Umso überraschter ist Susanne Kulbeik, als sich ihr Mann 1969 schlagartig verändert. Sie ist krank, muss für einige Monate zur Kur und glaubt, Helmut werde allein zurechtkommen. Nach einiger Zeit aber melden sich Freunde bei ihr und berichten, dass Helmut nicht zu erreichen sei, sich herumtreibe, laute Feten in der Wohnung veranstalte und die Miete nicht zahle. Offensichtlich hat er auch seine Arbeit aufgegeben. Susanne ruft an, erreicht ihren Mann aber nicht und bricht schließlich die Kur ab. Daheim ist sie vom Zustand der Wohnung entsetzt: Um an Geld zu kommen, hat Helmut Teile der Einrichtung verkauft. Als er nach Wochen einmal vorbeikommt, stellt sie ihn zur Rede, doch er ist wie verwandelt, ein Fremder. Kulbeik kann selbst nicht erklären, was passiert ist. Susanne glaubt, er habe das plötzliche Alleinsein nicht ertragen. Er braucht wohl jemanden, der ihn an die Hand nimmt. Die Flucht und der Tod seines Freundes, außerdem die erzwungene Trennung von Eltern und Schwester belasten ihn offenkundig doch stärker, als er zugegeben oder vielleicht auch sich selbst eingestanden hat.
Obwohl Susanne Kulbeik inzwischen schwanger ist, kühlt sich das Verhältnis zu ihrem Mann weiter ab. Helmut lässt sie immer öfter allein. Schließlich weiß sie sich nicht mehr anders zu helfen, als 1970 die Scheidung einzureichen – da ist der gemeinsame Sohn Gregor gerade wenige Wochen auf der Welt. Susanne zieht zurück zu ihren Eltern, doch nur einmal kommt Helmut vorbei, um Gregor zu sehen, der inzwischen etwa ein Vierteljahr alt ist. Weil er weiter seine Miete nicht zahlt, wird die ehemals gemeinsame Wohnung zwangsgeräumt. Freunde von Susanne helfen, die letzten Möbel abzutransportieren, und erleben eine Überraschung: An die Wände hat Helmut Kulbeik Zeitungsartikel über die Flucht und über Peter Fechters qualvollen Tod geheftet. Offensichtlich hat er den 17. August 1962 eben doch nicht verarbeitet.
Am Fechter-Denkmal kommt es mittlerweile nur noch selten zu Auseinandersetzungen, 1971 etwa, als linke Demonstranten gegen den Aufmarsch von etwa 300 Rechtsextremisten vor dem Mahnmal protestieren. Als die DDR 1977 die Mauer entlang der Zimmerstraße noch einmal erneuert, bleiben Proteste aus. Auch Zwischenfälle wie 1982, als Unbekannte am 20. Jahrestag der Ermordung Fechters das Kreuz umstoßen und den Rahmen mit Wolfgang Beras Foto des Sterbenden herunterreißen, sind rar. Mitunter kommt allerdings überraschender Besuch zum Mahnmal. Als Monika Hennig vom Bestattungsunternehmen Kadach & Maurer aus Weißensee zum ersten Mal die Erlaubnis erhält, nach West-Berlin zu reisen und Verwandte zu besuchen, fährt sie an die Gedenkstätte für Peter Fechter: »Ich wollte das sehen.« Obwohl die Bestatterin täglich mit dem Tod zu tun hat, geht ihr Fechters langes Sterben nicht aus dem Gedächtnis. In weiten Teilen der Bevölkerung verhält sich das anders. Obwohl weiter DDR-Bürger die Flucht wagen, dabei verhaftet werden oder sterben, hat sich die Stimmung in West-Berlin durch das Passierscheinabkommen und das Vier-Mächte-Abkommen, die Erleichterungen bringen, gewandelt. Gleichgültigkeit macht sich breit, auch im Gedenken an die Opfer der Mauer.
So erregt auch ein weiterer »Grenzübertritt« von Dieter Beilig kein großes Aufsehen, der ihn am 2. Oktober 1971 das Leben kostet. Gegen 09:15 Uhr klettert der inzwischen 30-Jährige am Brandenburger Tor auf die hier niedrige, aber besonders breite Mauer, läuft aufgeregt auf ihr entlang, ruft Parolen wie »Freiheit für Deutschland« und springt plötzlich, als sich West-Berliner Polizisten nähern und ihn auffordern herunterzukommen, in den Osten. Die verblüfften DDR-Grenzer nehmen Beilig fest und bringen ihn zum NVA-Führungspunkt im Gebäude der ehemaligen Akademie der Künste, um ihn zu verhören. Dazu kommt es nicht mehr. Unvermittelt springt Beilig auf und stürzt auf ein unvergittertes Fenster zu. Ehe er fliehen kann, schießt ihn ein Grenztruppenoffizier rücklings nieder. Ein Rettungswagen bringt Beilig zum Krankenhaus der Volkspolizei. Doch er ist längst tot. Um angesichts des erwarteten West-Berliner Protests behaupten zu können, Beilig habe einen Angehörigen der Grenztruppen entwaffnen wollen, bringt man nachträglich seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe an. Letztlich wird der Fall schlichtweg vertuscht, die näheren Umstände von Beiligs Tod werden erst nach dem Mauerfall bekannt.
Weitere Schicksalsschläge muss auch die Familie Fechter
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