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Mord an der Mauer

Mord an der Mauer

Titel: Mord an der Mauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Keil
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den 18. August. Um 10:25 Uhr zählen die eifrigen Beobachter bereits 100 Personen, »welche an dem schon erwähnten Kreuz Blumen niederlegten«. Gegen zwölf Uhr haben sich dann 500 Menschen versammelt. Bevor die Lage eskalieren kann, spannen West-Berliner Polizisten etwa 50 Meter vor der Mauer quer über die Straße ein Seil, drängen die Zuschauer zurück und lassen nur noch Trauernde durch, die mit Blumen zum Kreuz wollen. Zur Wut über das grausame Geschehen, die sich am Abend zuvor in ersten spontanen Protesten zu entladen begonnen hat, hat sich mit der gleichen Intensität Betroffenheit über das Schicksal des jungen Ostdeutschen hinzugesellt. Immer wieder lösen sich aus Demonstrationszügen gegen das SED-Regime West-Berliner heraus und gehen still zu dem Kreuz.

    Dieter Beilig sucht »sein« Mahnmal am 18. August kurz nach 14 Uhr wieder auf. Noch berauscht von den Protesten in der Stadt, staunt er nicht schlecht, als er den Menschenauflauf in der Charlottenstraße sieht. Ihm schmeichelt, dass ihn die Polizisten erkennen und, ohne zu zögern, durchlassen. Er will die Gedenkstätte ausbauen – doch haben damit zu seiner Überraschung längst andere begonnen. Beilig erfährt, dass sein Kreuz ausgegraben und neu verankert wurde, um es zu stabilisieren. Gegen 15:20 Uhr bringt ein Jugendlicher auf einem Handwagen ein zweites, viel kleineres Kreuz vorbei, das er neben dem von Beilig aufstellt. Es ist mit Stacheldraht umwickelt und trägt die Aufschrift »Wir sind doch alle Deutsche«. Beilig und andere Jugendliche haben aus alten Blechdosen Sammelbüchsen gefertigt und bitten mit Duldung der Polizei um Geld, »für ein Mahnmal«, wie auf einem kleinen Pappschild zu lesen ist. Allein an diesem Tag kommen mehrere Hundert D-Mark zusammen, die bei der Polizei deponiert werden, weil die Jugendlichen keine Sammelgenehmigung haben. Als es dunkel wird, brennen am Kreuz zwei Fackeln.
    Auch in den folgenden Tagen strömen Hunderte zu dem Kreuz, mitunter zählt die Ost-Berliner Polizei auf der anderen Seite der Mauer bis zu 1500 Personen. Das macht auf West-Berlins Politiker Eindruck: Am 19. August sucht Bürgermeister Franz Amrehn das Mahnmal auf, das durch seine Schlichtheit wirkt; einen Tag später legt der Regierende Bürgermeister Willy Brandt zusammen mit seiner Frau Rut und Sohn Lars einen Strauß nieder und spricht fünf Minuten. Der britische Botschafter in der Bundesrepublik, Sir Christopher Steel, kommt in Begleitung seines Stadtkommandanten Claude Dunbar am 22. August. Politiker aus Bonn wie Heinrich von Brentano, CDU-Fraktionschef im Bundestag, wollen die Peter-Fechter-Gedenkstätte sehen, und sogar der Präsident Madagaskars, Philibert Tsiranana, der auf Staatsbesuch in der Bundesrepublik weilt, begibt sich an die Stelle.
    Auch Lieselotte Müller, Peter Fechters Schwester in West-Berlin, kommt mit ihrem Mann vorbei und legt einen Kranz nieder. Auf der Ostseite notieren die Grenzposten in ihrem Rapport penibel den Text auf der Kranzschleife: »Im stillen Gedenken Deine Schwester Lilo, Dein Schwager Horst. Du wolltest in die Freiheit und musstest sterben.«
    Inzwischen hat das Mahnmal sein Aussehen weiter verändert: Über die Brachfläche führt nun ein provisorischer Zugang. Fünf West-Berliner Polizisten haben den zwei Meter breiten Weg zunächst markiert und dann Schlacke daraufgeschüttet, die zwei Lastkraftwagen herangefahren haben. Um das Kreuz hat die Polizei ein Seil im Viereck gespannt, an den Ecken gehalten von rot-weißen Pfählen, die von Straßensperren stammen. Zusätzlich hängen an einem langen Pfahl eine schwarze Fahne sowie ein Foto des niedergeschossenen Fechter. Kommt offizieller Besuch, stehen zwei Polizisten mit Gewehr über der Schulter Ehrenwache. Das ist außergewöhnlich – Ähnliches gibt es bei keinem anderen Denkmal für ein Opfer der Mauer. So erhält zwar auch der 19-jährige Ost-Berliner Transportpolizist Hans-Dieter Wesa umgehend ein Mahnmal, der nur wenige Tage nach Peter Fechter am 23. August 1962 an der Bornholmer Straße von einem Wachkollegen erschossen wird, als er bereits West-Berliner Territorium erreicht hat. Selbstverständlich eilt Willy Brandt auch an diesen Tatort, und Innensenator Heinrich Albertz hält am 25. August bei der offiziellen Trauerfeier eine Rede. Natürlich löst der brutale Gewaltakt ebenfalls Abscheu in der Bevölkerung aus, Massenproteste hingegen bleiben aus. Auch eine offizielle Wache bekommt Wesas Denkmal nicht, was im Wesentlichen

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