Mord an der Mauer
zugegen, als DDR-Grenztruppen mit schwerem Gerät vom Checkpoint Charlie aus die alte Mauer auf einer Breite von fast 40 Metern entfernen und eine neue Betonbarriere errichten – um etwa zweieinhalb Meter vorverlegt, bis fast genau an die eigentliche Sektorengrenze. In der Nacht zum 16. April, gegen 04:20 Uhr, werden die Arbeiten, zehn Meter bevor das Fechter-Mahnmal erreicht ist, eingestellt; in die Lücke zwischen alter und neuer Mauer kommt Stacheldraht. »Pankow will Kreuz für Peter Fechter abreißen lassen – weil es Ulbrichts Schandmauer im Weg steht«, schreibt die Berliner Morgenpost an diesem Tag in Erwartung weiterer Baumaßnahmen. Jedoch hat der Baustopp einen anderen Grund: Die DDR hat West-Berlins Polizei aufgefordert, die Absperrseile und die Steinplatten am Boden zu entfernen, weil sie der Vorverlegung der Mauer im Weg stehen. Innensenator Albertz indessen untersagt jede Veränderung am Fechter-Denkmal. So reißen Pioniere der Grenztruppen am Abend des 16. April selbst die hintere Umfriedung des Ehrenmals heraus, und gegen 21:30 Uhr lässt ein Kranwagen die Betonplatten der neuen Mauer auf der steinernen Umrandung des Mahnmals nieder. Kein Zentimeter wird verschenkt, lautet die Devise offenbar. An das Kreuz selbst aber trauen sich die Grenztruppen nicht heran.
Hunderte West-Berliner sind des Nachts herbeigeströmt, um zu protestieren. Rufe wie »Mörder« oder »Die Mauer muss weg!« erschallen. Hell erleuchtet wird die Szenerie von den Scheinwerfen der westlichen Fernsehstationen und den Strahlern eines DDR-Schützenpanzers, der zugleich versucht, die westlichen Kameraleute und Fotografen zu blenden. Zu Zwischenfällen kommt es nicht, wohl aber zu einem rhetorischen Schlagabtausch zwischen einem Offizier der Volksarmee und einem West-Berliner Polizeibeamten. »Sie tragen die volle Verantwortung für das, was hier passiert«, giftet der Armeeoffizier und meint damit die Proteste. Der Kommissar erwidert, er könne keine Provokation von Westseite aus feststellen. Der NVA-Offizier poltert zurück: »Ich nehme an, Sie wissen, wo die Staatsgrenze verläuft.« Die lakonische Antwort: »Sie hoffentlich auch.«
Mit der Korrektur rückt die neue Mauer, die aus acht übereinandergeschichteten dicken Betonplatten besteht, nun bis auf 50 Zentimeter an das Holzkreuz des Fechter-Mahnmals heran. Die neue Mauer ist zudem etwas höher als die alte. Der gewollte Effekt: Vom Osten aus ist das Kreuz nun fast vollständig unsichtbar. »Pankow schändet das Mahnmal für Peter Fechter«, titeln am nächsten Morgen mehrere Zeitungen – eine Übertreibung, wenngleich die Aktion zeigt, wie sehr das Mahnmal die DDR-Führung noch immer stört.
Dafür liefert sie noch im April 1964 einen weiteren Beleg. Unter mysteriösen Umständen gerät Dieter Beilig in die Fänge der Stasi. Im Westen wird vermutet, er sei nach Ost-Berlin entführt worden. In Stasiakten steht, Beilig sei in betrunkenem Zustand zum Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße gefahren, habe sich bei der Passkontrolle gemeldet und erklärt, er wolle mit dem Ministerium für Staatssicherheit sprechen. Die folgenden Monate wird der Aktivist wieder und wieder verhört, mitunter zweimal am Tag und stets über Stunden hinweg. Ausführlich berichtet er über seinen Einsatz für Peter Fechter, wobei er dick aufträgt, aber keinen Zweifel lässt, dass er das DDR-Grenzregime und die Schüsse auf Flüchtlinge für unmenschlich hält. Mit dem Mahnmal habe er andere Menschen bewegen wollen, Stellung zu beziehen. Die DDR-Justiz wertet das als »staatsfeindliche Hetze«, mit seinen Anschlägen auf die Mauer habe Beilig zudem das »Vertrauen zur Arbeiter-und-Bauern-Macht erschüttern« wollen. Auch die Gründung der Peter-Fechter-Memorial-Bewegung kommt zur Sprache, welche die Stasi natürlich als »staatsfeindliche Organisation« einstuft. Beilig wird zu zehn Jahren Haft verurteilt, und auf die Berufung der DDR-Staatsanwaltschaft hin wird die Strafe sogar auf zwölf Jahre verlängert. Zwei Jahre später wird er vom Westen freigekauft und im Oktober 1966 nach West-Berlin entlassen.
In diesem Jahr wechselt das Gelände, auf dem das Peter-Fechter-Mahnmal steht, den Eigentümer. Am 13. Juni 1966 berichtet die Polizeiinspektion Kreuzberg dem Innensenator, die Iduna Vereinigte Versicherungs-AG habe das Grundstück zwischen Markgrafen- und Charlottenstraße, einschließlich des Geschäftshauses an der Kochstraße, an das Verlagshaus Axel Springer verkauft. Der Verlag
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