Mord au chocolat
unter unserem Dach lebt und wir ihre Ausbildung finanzieren, sollte sie unsere Regeln befolgen. Wir sind Presbyterianer. Wir halten an unseren Prinzipien fest.«
»Natürlich«, sage ich sittsam.
»Um eine lange Geschichte abzukürzen – Roy hat etwas übertrieben reagiert und die Polizei gerufen. Jetzt sitzt der arme Junge im Gefängnis, und Jamie spricht nicht mehr mit uns.«
»O nein!«, erwidere ich und heuchle tiefe Besorgnis.
»Offen gestanden, Jamie und ich hatten nie eine typische Mutter-Tochter-Beziehung. Ihre ältere Schwester und ich – nun, wir sind uns ähnlicher. Aber Jamie war schon immer ein Wildfang – und so groß. Irgendwie grobknochig – wie Sie, Miss. Wir hatten nie viel gemein,
während ihre Schwester und ich die gleiche Kleidergröße tragen und unsere Garderobe teilen. Seit heute Morgen kriege ich kein Wort aus Jamie heraus. Vielleicht gelingt es Ihnen.«
»Ich will es zumindest versuchen.«
»Oh, das wäre sehr nett.« Mrs Price legt ihren Kopf schief. »Weil ich nämlich zu meiner Dressur muss.«
»Zu Ihrer – was?«
»Dressur«, sagt sie, als würde ich es besser verstehen, wenn sie das Wort wiederholt. »Jamie!«, ruft sie die Treppe hinauf. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee, Miss Wells?«
»Ja, danke, sehr gern.«
»Gut. In der Küche finden Sie eine Kaffeemaschine. Bedienen Sie sich, die Tassen hängen an einem Gestell. JAMIE!«
»O Gott, was ist denn los, Mom?« Jamie erscheint am Treppenabsatz, in Frotteeshorts und einem rosa T-Shirt, das lange blonde Haar hängt zerzaust auf die breiten Schultern. Offenbar ist sie eben erst aufgewacht. Werde ich jemals so gut aussehen, wenn ich eben erst aufgewacht bin? Als sie mich entdeckt, reißt sie die Augen auf. »Sie!« Aber sie läuft nicht davon. Anscheinend fürchtet sie sich nicht vor mir. Stattdessen mustert sie mich neugierig.
»Jamie, da ist Miss Wells – vom College«, erklärt ihre Mutter. »Sie möchte mit dir reden. Wenn du willst, fährt sie mit dir zurück. Vielleicht wäre das eine gute Idee. Du weißt ja, wie wütend Daddy ist. Wenn er heute Abend nach Hause kommt, wäre es besser, wenn er dich nicht mehr hier antrifft. Lassen wir lieber Gras über die Sache wachsen.«
»Nein, ich fahre nirgendwohin.« Entschlossen reckt sie ihr Kinn vor. »Erst wenn alle Anklagen gegen Gavin fallen gelassen werden!«
Komisch, in ihrem Elternhaus hängt sie keine Fragezeichen an ihre Sätze.
»Nun, das wird vorerst nicht passieren, Schätzchen«, entgegnet Mrs Price. »Im Augenblick habe ich keine Zeit dafür, weil ich zur Dressur muss. Ich habe Miss Wells gesagt, sie soll sich Kaffee einschenken. Übrigens, den Kirschauflauf darfst du nicht anrühren. Den habe ich für heute Abend gebacken, für eine Versammlung des Hausund Gartenvereins. Bye.«
Ohne ein weiteres Wort eilt sie aus der grandiosen Halle. Kurz danach heult der Motor eines Jaguars auf, und die Hausherrin braust davon.
»Wow«, sage ich – hauptsächlich, um das Schweigen zu brechen. »Diese Dressur muss ihr viel bedeuten. Was immer das auch ist.«
»Quatsch, die Dressur ist ihr scheißegal«, teilt Jamie mir angewidert mit. »Sie bumst mit ihrem Trainer. Wegen ihrer Prinzipien.«
»Oh.« Ich beobachte, wie sie die Treppe herabsteigt und an mir vorbei in die Küche geht. Dort nimmt sie eine Tasse von einem antiken Gestell neben der Kaffeemaschine und schenkt sich was ein. »Ich trinke auch eine Tasse.«
»Bedienen Sie sich«, sagt sie genauso höflich wie ihre Mutter. Dann öffnet sie den Kühlschrank und schüttet eine großzügige Portion Sahne in ihre Tasse. Als sie meine Miene bemerkt, schüttet sie auch was in die Tasse, die ich mir inzwischen genommen habe.
»Also...«, beginne ich, während ich mir Kaffee einschenke.
»Um Gavin müssen Sie sich nicht sorgen. Er kommt gegen Kaution frei.«
»Tatsächlich?«, fragt sie verwirrt, und ich nicke. Der Kaffee ist köstlich. Mit Zucker wäre er noch besser, ich schaue mich um. »In etwa einer Stunde wird er entlassen.«
»O mein Gott!« Jamie zerrt einen Stuhl unter dem Küchentisch mit der künstlichen antiken Patina hervor und sinkt darauf, als würden ihre Beine sie nicht mehr tragen. Stöhnend schlägt sie die Hände vors Gesicht. »Oh, danke – vielen Dank!«
»Keine Ursache.« Endlich finde ich eine Zuckerdose und streue einen Löffel voll in meinen Kaffee. Danach noch einen. Ah, perfekt. Nun ja, fast. Schlagsahne wäre noch erfreulicher. Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. »Dafür will
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