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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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dem Necessaire ein kleiner Spiegel mit echtem Schildpattrahmen weggekommen.«
    Der Psychopath wollte offenbar auch etwas sagen, aber der Kommissar klappte ärgerlich die Mappe zu.
    »Halten Sie mich gefälligst nicht für einen Idioten! Gustave Coche ist ein alter Spürhund, den bringt man nicht von seiner Spur ab. Wenn nötig, setzen wir die ganze ehrenwerte Gesellschaft an Land und nehmen uns jeden einzeln vor! Zehn Menschen sind getötet worden, das ist kein Spaß! Denken Sie nach, meine Damen und Herren, denken Sie nach!«
    Er verließ den Salon und knallte die Tür hinter sich zu.
    »Meine Herrschaften, mir ist schlecht«, hauchte Renate. »Ich gehe in meine Kabine.«
    »Ich begleite Sie, Madame Kleber«, sagte Charles Regnier und eilte zu ihr. »Das ist unerhört! Was für eine Frechheit!«
    Renate schob ihn weg.
    »Nicht nötig, danke. Ich schaff ’s schon.«
    Unsicheren Schritts durchquerte sie den Raum, lehnte sich bei der Tür für einen Moment an die Wand. Im menschenleeren Korridor beschleunigte sie den Schritt. Sie öffnete die Tür ihrer Kabine, holte unter dem Sofa ihre Reisetasche hervor und schob die zitternde Hand unter das Seidenfutter. Ihr Gesicht war bleich, aber entschlossen. Ihre Finger ertasteten eine kleine Metallschachtel.
    Darin blinkte Glas und Stahl – eine Spritze.

CLARISSA STOMP
     
     
    Die Unannehmlichkeiten begannen schon früh am Morgen. Im Spiegel entdeckte Clarissa zwei neue Falten, kaum erkennbare feine Strahlen, die sich von den Augenwinkeln zu den Schläfen hinzogen. Das lag an der Sonne, die war in diesen Breiten so grell, daß weder der Schirm noch der Hut Schutz boten. Clarissa betrachtete sich lange in der gnadenlosen glatten Fläche und zog mit den Fingern die Haut straff, in der Hoffnung, die Falten könnten vom Schlaf rühren und würden sich wieder glätten. Dann drehte sie den Hals und erspähte hinterm Ohr ein weißes Haar. Da wurde sie ganz traurig. Ob das auch von der Sonne kam? Ob die das Haar ausbleichte? Nein, Miss Stomp, machen Sie sich nichts vor. Wie sagte doch der Dichter?
     
    Und des Novembers kalter weißer Hauch
    verströmte Leid, versilberte das Haar.
     
    Sorgfältiger als gewöhnlich machte sie sich zurecht. Das weiße Haar wurde herausgerissen. Das war natürlich dumm. Es war wohl John Donne, der gesagt hatte, das Geheimnis des weiblichen Glücks bestehe in der Fähigkeit, den Übergang aus einem Alter in das andere rechtzeitig zu vollziehen, und die Frau habe drei Alter: Tochter, Gattin und Mutter. Wie aber sollte sie aus dem zweiten Status in den dritten gelangen, wenn sie noch nie verheiratet war?
    Das beste Mittel gegen solche Gedanken war ein Spaziergang an der frischen Luft, und Clarissa begab sich an Deck. So gewaltig die »Leviathan« auch war, Clarissa hatte das Schiff längst mit gleichmäßigen bedächtigen Schritten ausgemessen, zumindest das Oberdeck, das für die Passagiere der ersten Klasse reserviert war. Es waren dreihundertfünfundfünfzig Schritte, die dauerten siebeneinhalb Minuten, wenn sie sich nicht in den Anblick der See vertiefte und nicht mit Bekannten schwatzte.
    Zu der frühen Stunde waren noch keine Bekannten an Deck, und Clarissa wanderte ungehindert an Steuerbord nach achtern. Der Dampfer durchschnitt ruhig das braune Wasser des Roten Meeres, und von der mächtigen Schraube zog sich eine träge graue Furche bis zum Horizont. Uff, diese Hitze.
    Clarissa beobachtete die Matrosen, die ein Deck tiefer das Messingblech der Reling blank putzten. Die hatten es gut in ihren Leinenhosen – kein Mieder, keine lange Unterhose, keine Strümpfe mit straffen Strumpfbändern, kein langes Kleid. Da konnte man neidisch werden auf den exotischen Mr. Aono, der in seinem japanischen Schlafrock herumspazierte, was niemanden verwunderte – ein Asiat eben.
    Sie stellte sich vor, wie sie auf der mit Leinen bezogenen Chaiselongue lag und nichts anhatte. Doch, eine leichte Tunika wie eine Griechin der Antike. Und nichts wäre dabei. In hundert Jahren, wenn die Menschheit sich endgültig ihrer Vorurteile entledigt hätte, würde das völlig normal sein.
    Ihr entgegen rollte auf seinem amerikanischen Dreirad mit raschelnden Kautschukreifen Mr. Fandorin. Es hieß, diese Übung eigne sich hervorragend dazu, die Muskeln elastisch zu halten und das Herz zu kräftigen. Der Diplomat trug einen leichten Sportanzug: karierte Hose, Guttaperchaschuhe mit Gamaschen, kurze Jacke, weißes Hemd mit offenem Kragen. Das von der Sonne goldbraune Gesicht

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