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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Monsieur Boileau aus Lyon, ein Philantrop und Vater von elf ganz und gar französischen Kindern. Und handeln tut er nicht mit Opium, sondern mit Tee.«
    »Von wegen«, antwortete Fandorin ungerührt. »Schauen Sie, seine Manschette ist verrutscht, und auf dem Handgelenk ist ein tätowierter blauer Ring zu sehen. Solch einen habe ich in einem Buch über China gesehen. Es ist das Erkennungszeichen einer Hongkonger Triade, einer k-kriminellen Geheimgesellschaft. Wenn ein Europäer Mitglied der Triade werden will, muß er schon ein Verbrecher von erheblicher Größenordnung sein. Und natürlich mit einer Chinesin verheiratet. Sehen Sie sich nur die Physiognomie dieses ›Philantropen‹ an, dann ist Ihnen alles klar.«
    Clarissa wußte nicht recht, ob sie das glauben sollte, doch Fandorin sagte mit ernster Miene: »Das ist kinderleicht, Miss Stomp. Ich kann Ihnen sogar mit v-verbundenen Augen vieles über einen Menschen erzählen – nach seinen Geräuschen, nach seinem Geruch. Überzeugen Sie sich.«
    Er nahm die weiße Atlaskrawatte ab und reichte sie Clarissa.
    Sie befühlte das Gewebe, es war fest und undurchsichtig, und verband damit dem Diplomaten die Augen. Wie zufällig berührte sie dabei seine Wange, die war glatt und heiß.
    Gleich darauf kam von achtern her eine ideale Kandidatin, die bekannte Suffragette Lady Campbell, die nach Indien reiste, um Unterschriften für eine Petition zu sammeln, die für verheiratete Frauen das Wahlrecht verlangte. Maskulin, kompakt, mit kurzgeschnittenem Haar, stampfte sie über das Deck wie ein Lastgaul. Wie sollte man da erraten, ob eine Lady kam oder ein Bootsmann?
    »Nun, wer kommt da?« fragte Clarissa und bog sich schon vor Lachen.
    Aber sie lachte nicht lange.
    Fandorin runzelte die Stirn und sagte abgehackt: »Raschelnder Rock. Eine Frau. Sch-schwerer Gang. Starker Charakter. Nicht mehr jung. Nicht schön. Raucht Tabak. Kurzgeschnittenes Haar.«
    »Wieso kurzgeschnitten?« kreischte Clarissa, hielt sich die Augen zu und horchte auf den Elefantengang der Suffragette. Wie konnte er das nur alles wissen?
    »Wenn eine Frau raucht, hat sie kurzgeschnittenes Haar und ist fortschrittlich«, sagte Fandorin gelassen. »Diese v-verachtet auch noch die Mode, sie trägt ein sackartiges Gewand von giftgrüner Farbe, aber mit einem grellroten Gürtel.«
    Clarissa erstarrte. Unglaublich! In abergläubischem Entsetzen nahm sie die Hände vom Gesicht und sah, daß Fandorin den Schlips schon wieder mit einem eleganten Knoten um den Hals trug. Seine hellblauen Augen funkelten fröhlich.
    All das war ja ganz nett, aber das Gespräch nahm ein schlechtes Ende. Als Clarissa genug gelacht hatte, brachte sie die Unterhaltung raffiniert auf den Krimkrieg, der eine Tragödie für Europa und für Rußland gewesen sei. Vorsichtig streifte sie ihre Erinnerungen an jene Zeit und gab vor, damals noch ein Kind gewesen zu sein. Danach erwartete sie von ihm ähnliche Eröffnungen, denen sie zu entnehmen hoffte, wie alt er sei. Ihre schlimmsten Befürchtungen trafen ein.
    »Ich w-war damals noch nicht auf der Welt«, gestand er treuherzig und beschnitt ihr damit die Flügel.
    Nun lief alles verquer. Clarissa versuchte es mit der Malerei, verhedderte sich aber und konnte nicht erklären, warum die Präraffaeliten sich Präraffaeliten nannten. Er mußte sie für eine komplette Idiotin halten. Aber was machte das jetzt noch aus!
     
    Traurig kehrte sie zu ihrer Kabine zurück, und da passierte etwas Schreckliches.
    In einer halbdunklen Ecke des Korridors wogte ein gigantischer schwarzer Schatten. Clarissa quiekte unanständig auf, griff sich ans Herz und stürzte Hals über Kopf zu ihrer Tür. In der Kabine kam ihr rasend hämmerndes Herz lange nicht zur Ruhe. Was war das gewesen? Kein Mensch, kein Tier. Ein Klumpen böser, zerstörerischer Energie. Das schlechte Gewissen. Ein Phantom des Pariser Alpdrucks.
    Sogleich rief sie sich selbst zur Ordnung: Schluß jetzt, das ist vorbei! Gar nichts war. Eine Sinnestäuschung. Sie nahm sich fest vor, sich nicht länger Vorwürfe zu machen. Jetzt war das neue Leben da, licht und freudvoll.
    Um sich zu beruhigen, zog sie ihr teuerstes Tageskleid an, das sie noch nie getragen hatte (weiße Chinaseide mit einer blaßgrünen Schleife hinten), und legte das Smaragdkollier um. Sie liebäugelte mit dem Glanz der Steine.
    Gut, jung war sie nicht mehr, schön war sie auch nicht. Dafür war sie nicht dumm und hatte Geld.
    Den Salon »Hannover« betrat Clarissa um punkt zwei,

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