Mord auf der Leviathan
Herrscherhaus von Brahmapur als das reichste von ganz Indien nach dem Nizam von Haidarabad, dessen Reichtum, wie Sie natürlich wissen, denjenigen aller Monarchen in den Schatten stellt, eingeschlossen Königin Victoria und den russischen Imperator Alexander.«
»Die Größe unserer Königin mißt sich nicht an ihrer Schatzkammer, sondern an dem Reichtum ihrer Untertanen«, sagte Clarissa streng, ein wenig pikiert über die Bemerkung Sweetchilds.
»Zweifellos«, pflichtete der Professor ihr bei und war nicht mehr zu bremsen. »Aber der Reichtum der Radschas von Brahmapur war von ganz besonderer Art. Sie häuften kein Gold, kein Silber, bauten keine Paläste aus rosa Marmor. O nein, diese Herrscher kannten dreihundert Jahre lang nur eine Leidenschaft – Edelsteine. Wissen Sie, was der ›Brahmapurer Standard‹ ist?«
»Ist das nicht ein Brillantschliff?« fragte Doktor Truffo unsicher.
»Der ›Brahmapurer Standard‹ ist ein Juwelierausdruck. Damit bezeichnet man Diamanten, Saphire, Rubine oder Smaragde, die auf besondere Weise geschliffen sind und die Größe einer Walnuß haben, das entspricht achtzig Karat Gewicht.«
»Aber das ist sehr groß«, sagte Regnier verwundert. »Solche Steine kommen äußerst selten vor. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, ist selbst der Diamant ›Regent‹, Juwel des französischen Staatsschatzes, nur wenig größer.«
»Nein, Leutnant, der Diamant ›Pitt‹, auch ›Regent‹ genannt, ist fast doppelt so groß«, korrigierte der Professor den Seeman mit autoritärer Miene, »aber achtzig Karat, namentlich bei Steinen reinen Wassers, das ist sehr viel. Also, meine Herrschaften, stellen Sie sich vor, Bagdassar hatte von solchen Steinen, noch dazu in makelloser Qualität, fünfhundertzwölf Stück!«
»Ausgeschlossen!« rief Milford-Stokes.
Und Fandorin fragte: »Warum gerade f-fünfhundertzwölf?«
»Wegen der heiligen Zahl 8«, erklärte Sweetchild bereitwillig. »512 – das ist 8 x 8 x 8, das heißt, eine Acht in der dritten Potenz, eine Kubikzahl, eine sogenannte Idealzahl. Hier zeigt sich ohne Zweifel der Einfluß des Buddhismus, der die Acht besonders verehrt. Im nordöstlichen Teil von Indien, wo Brahmapur liegt, sind die Religionen aufs wunderlichste miteinander verquickt. Aber am interessantesten ist, wo und wie dieser Schatz aufbewahrt wurde.«
»Nämlich?« fragte Renate Kleber.
»In einer einfachen, schmucklosen irdenen Schatulle. 1852 war ich als junger Archäologe in Brahmapur und hatte mehrere Begegnungen mit dem Radscha Bagdassar. Auf dem Territorium des Fürstentums waren im Dschungel die Ruinen eines alten Tempels entdeckt worden, und Seine Hoheit luden mich ein, den Fund zu begutachten. Ich führte die notwendigen Untersuchungen durch, und was meinen Sie? Ich stellte fest, daß dieser Tempel schon in der Zeit des Herrschers Sandragupta gebaut worden war, als …«
»Stop-stop-stop!« unterbrach der Kommissar den Gelehrten. »Von der Archäologie können Sie uns ein andermal erzählen. Zurück zu dem Radscha.«
»Na gut.« Der Professor blinzelte. »Das ist wirklich besser. Also, der Radscha war mit mir zufrieden und zeigte mir als Zeichen besonderen Wohlwollens seine legendäre Schatulle. Oh, diesen Anblick werde ich nie vergessen!« Sweetchild kniff die Augen zu. »Stellen Sie sich ein unterirdisches Gewölbe vor. Neben der Tür brennt eine einzige Fackel, die in einem bronzenen Halter steckt. Wir waren zu zweit – der Radscha und ich, seine Vertrauten waren vor der massiven Tür zurückgeblieben, die von einem Dutzend Wächter bewacht wurde. Ich konnte die Einrichtung der Schatzkammer nicht erkennen, meine Augen hatten sich noch nicht an das Halbdunkel gewöhnt. Ich hörte nur, wie Seine Hoheit klirrende Schlösser öffnete. Dann wandte sich Bagdassar mir zu, und ich sah in seinen Händen einen erdfarbenen Kubus, der sehr schwer zu sein schien. Die Größe …« Sweetchild öffnete die Augen und blickte sich um. Alle hörten wie verzaubert zu, Renate Kleber sogar mit kindlich geöffnetem Mund. »Ich weiß nicht recht. Vielleicht so groß wie der Hut von Miss Stomp, wenn man ihn in eine quadratische Schachtel legt.« Alle starrten wie auf Kommando den Tiroler Hut mit der Fasanenfeder an. Clarissa Stomp ertrug die allgemeine Musterung mit einem würdevollen Lächeln, wie man es ihr als Kind beigebracht hatte. »Der Kubus ähnelte einem gewöhnlichen Lehmziegel, wie sie dort zum Bauen verwendet werden. Später erklärte mir der Radscha, daß die
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