Mord auf der Leviathan
doch alle waren schon beisammen. Merkwürdig, die gestrige umwerfende Bekanntmachung des Kommissars hatte die Gesellschaft nicht entzweit, sondern eher zusammengeschweißt. Ein gemeinsames Geheimnis, das niemandem mitgeteilt werden darf, bindet dauerhafter als eine gemeinsame Aufgabe oder ein gemeinsames Interesse. Clarissa stellte fest, daß ihre Tischgenossen sich jetzt schon vor der festgesetzten Zeit zu den Mahlzeiten einfanden und daß sie danach noch zusammensaßen, was bisher kaum vorgekommen war. Selbst der Erste Offizier, der nur indirekt mit dieser Geschichte zu tun hatte, eilte nicht zu seinen dienstlichen Obliegenheiten, sondern blieb mit den übrigen lange im »Hannover« (wozu er möglicherweise vom Kapitän beauftragt war). Die »Hannoveraner« waren nun gleichsam Mitglieder eines Eliteklubs, der Uneingeweihten verschlossen war. Clarissa fing mehr als einmal verstohlene Blicke auf. Diese konnten nur zweierlei bedeuten: entweder »Sind Sie die Mörderin?« oder »Haben Sie erraten, daß ich der Mörder bin?« Jedesmal, wenn dies geschah, spürte sie tief im Bauch einen wohligen Krampf, ein Gemisch von Angst und Erregung. Vor ihren Augen erschien die Rue de Grenelle, so wie sie abends aussah: schmeichlerisch still und menschenleer, und schwarze Kastanienbäume wiegten ihre kahlen Zweige. Es fehlte bloß noch, daß der Kommissar die Geschichte im »Ambassadeur« ausschnüffelte. Allein bei dem Gedanken gruselte es Clarissa, und sie warf heimliche Blicke auf den Polizisten.
Coche thronte an der Tafel wie der Oberpriester dieser Geheimsekte. Alle waren sich seiner Anwesenheit ständig bewußt, sie beobachteten aus den Augenwinkeln seinen Gesichtsausdruck, doch Coche schien das nicht zu bemerken. Er spielte den gutmütigen Schwadroneur und erzählte bereitwillig seine Geschichten, die mit gespannter Aufmerksamkeit angehört wurden.
Nach stillschweigender Übereinkunft wurde über DAS nur im Salon und nur in Gegenwart des Kommissars gesprochen. Wenn zwei »Hannoveraner« zufällig auf neutralem Boden zusammentrafen – im Musiksalon, an Deck, im Lesesaal –, wurde nie DARÜBER geredet. Auch im Salon kam das verführerische Thema nicht jedesmal zur Sprache. Und wenn, dann geschah es irgendwie von selbst, ausgelöst durch eine ganz abseitige Bemerkung.
Heute früh zum Beispiel war eine allgemeine Unterhaltung nicht zustandegekommen, doch als Clarissa jetzt Platz nahm, war die Erörterung bereits in vollem Gange. Mit gelangweilter Miene studierte sie die Speisekarte, wie um zu memorieren, was sie zum Mittagessen bestellt hatte, doch die wohlbekannte Erregung war schon da.
»Was mir keine Ruhe läßt«, sagte Doktor Truffo, »ist die unerhörte Sinnlosigkeit dieses Verbrechens. So viele Menschen mußten sterben für nichts und wieder nichts. Der goldene Schiwa landete in der Seine, und der Mörder steht mit leeren Händen da.«
Fandorin, der sich nur selten an den Debatten beteiligte, hielt es diesmal für nötig, sich zu äußern.
»Nicht ganz. Ein T-tuch hat er behalten.«
»Was für ein Tuch?« fragte der Doktor verständnislos.
»Ein indisches, bunt bemalt. Darin hatte der Mörder, wenn man den Zeitungen glauben darf, den geraubten Schiwa eingewickelt.«
Der Scherz wurde mit nervösem Gelächter aufgenommen.
Der Arzt breitete theatralisch die Arme aus.
»Ein Tuch, was ist das schon.«
Plötzlich fuhr Professor Sweetchild zusammen und riß die Brille von der Nase, bei ihm ein Zeichen starker Erregung.
»Lachen Sie nicht! Ich habe mich dafür interessiert, welches der Tücher geraubt wurde. Oh, meine Herrschaften, das ist ein ungewöhnliches Stück Stoff, daran hängt eine ganze Geschichte. Haben Sie mal von dem Smaragdenen Radscha gehört?«
»Ist das nicht ein legendärer indischer Nabob?« fragte Clarissa.
»Nicht legendär, sondern ganz real, Madame. So wurde der Radscha Bagdassar genannt, der Herrscher des Fürstentums Brahmapur. Das Fürstentum liegt in einem weiten fruchtbaren Tal und ist ringsum von Bergen umschlossen. Die Radschas führen ihre Herkunft auf den großen Babur zurück und bekennen sich zum Islam, doch das hat sie nicht gehindert, ihr kleines Land dreihundert Jahre lang friedlich zu regieren, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung aus Hindus besteht. Trotz der Religionsunterschiede zwischen der herrschenden Kaste und den Untertanen gab es in dem Fürstentum niemals Aufstände oder Zwistigkeiten, die Radschas wurden immer reicher, und in der Regierungszeit Bagdassars galt das
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