Mord auf der Leviathan
hat.«
Clarissa fragte lächelnd: »Sie durchschauen also jeden?«
»Das nicht, aber vieles sehe ich schon. Was können Sie mir zum Beispiel über den Herrn dort sagen?«
Fandorin wies auf einen korpulenten Mann mit Schnauzbart, der durch ein Fernglas auf die Uferwüste blickte.
»Das ist Mr. Bubble, er …«
»Sprechen Sie nicht weiter«, fiel Fandorin ihr ins Wort. »Ich will selbst dahinterkommen.«
Er musterte Mr. Bubble kurz und sagte dann: »Er reist zum erstenmal in den Orient. Hat unlängst geheiratet. Ist Fabrikant. Seine G-geschäfte gehen nicht gut, er steht wohl kurz vor dem Bankrott. Hält sich die meiste Zeit im Billardzimmer auf, spielt aber schlecht.«
Clarissa war immer stolz auf ihre Beobachtungsgabe gewesen, und sie sah Mr. Bubble, den Industriellen aus Manchester, genauer an.
Fabrikant? Das ließ sich wohl erraten. Wenn er erster Klasse reiste, mußte er vermögend sein. Daß er kein Aristokrat war, stand ihm im Gesicht geschrieben. Wie ein Geschäftsmann sah er auch nicht aus, der Gehrock saß ihm wie ein Sack, und seine Züge zeigten keine Gewandtheit. Na schön.
Unlängst geheiratet? Nun, das war einfach – der Ring an seinem Finger glänzte nagelneu.
Er spielte oft Billard? Wieso? Aha, der Rock war voller Kreidestaub.
»Woher wissen Sie denn, daß er zum erstenmal in den Orient reist?« fragte sie. »Und wieso steht er kurz vor dem Bankrott? Und wie können Sie behaupten, daß er schlecht Billard spielt? Haben Sie ihn denn spielen sehen?«
»Nein, ich war nicht im B-billardzimmer, weil ich Glücksspiele nicht ausstehen kann, und überhaupt sehe ich den Gentleman jetzt zum erstenmal«, antwortete Fandorin. »Daß er diese Route zum erstenmal befährt, geht daraus hervor, mit welch stumpfsinniger Hartnäckigkeit er das kahle Ufer betrachtet. Sonst wüßte er, daß er auf dieser Seite bis Bab el Mandeb nichts Interessantes zu sehen bekommt. Erstens. Um die Geschäfte dieses Herrn muß es scheußlich stehen, sonst würde er sich um keinen Preis auf eine so langwierige Reise eingelassen haben, zumal so kurz nach der Hochzeit. Solch ein D-dachs verläßt seine Höhle erst vor dem Ende der Welt, eher nicht. Zweitens.«
»Und wenn er mit seiner Frau auf Hochzeitsreise ist?« fragte Clarissa, die wußte, daß Mr. Bubble allein reiste.
»Und dann drückt er sich einsam an Deck herum und ist dauernd im B-billardzimmer? Dabei spielt er schlecht, sein Jackett ist vorn ganz weiß. Nur miese Spieler fahren so mit dem Bauch an der Billardkante entlang. Drittens.«
»Nun gut, und was sagen Sie zu der Dame dort?«
Clarissa, von dem Spiel gefesselt, zeigte auf Mrs. Blackpool, die Arm in Arm mit einer Begleiterin vorüberschritt.
Fandorin warf einen desinteressierten Blick auf die ehrenwerte Dame.
»Ihr steht alles im Gesicht geschrieben. Sie kehrt aus England zu ihrem Mann zurück. Von einem Besuch bei ihren erwachsenen Kindern. Ihr Mann ist Offizier. Oberst.«
Mr. Blackpool war tatsächlich Oberst und befehligte eine Garnison in einer nordindischen Stadt. Das war zuviel.
»Erklären Sie!« verlangte Clarissa.
»Solche Damen reisen nicht einfach so nach Indien, sondern nur zum Dienstort ihres Gatten. Und sie ist schon aus dem Alter heraus, in dem man erstmals solch eine R-reise unternimmt – also ist sie auf der Rückfahrt. Was wollte sie in England? Ihre Kinder wiedersehen. Ihre Eltern, will ich mal annehmen, sind schon im Jenseits. Ihrer entschlossenen und herrischen Miene ist anzumerken, daß diese Frau gewöhnt ist zu kommandieren. Genauso sehen die ersten Damen einer Garnison oder eines Regiments aus. Sie haben gewöhnlich mehr Autorität als der Kommandeur. Und warum gerade Oberst? Ganz einfach – wäre sie die Frau eines G-generals, so würde sie erster Klasse fahren, aber sie, schauen Sie, trägt das Abzeichen in Silber. Doch verschwenden wir nicht unsere Zeit für Lappalien.« Fandorin beugte sich vor und flüsterte: »Ich erzähle Ihnen lieber etwas über den Orang-Utan dort. Ein interessantes Subjekt.«
Neben Mr. Bubble war der affenartige Monsieur Boileau stehengeblieben, der früher auch in dem unglückseligen Salon »Hannover« gespeist, ihn aber rechtzeitig verlassen hatte und so den Netzen des Kommissars Coche entschlüpft war.
Der Diplomat raunte Clarissa ins Ohr: »Der Mann dort ist ein Verbrecher. Wahrscheinlich handelt er mit O-opium. Lebt in Hongkong. Verheiratet mit einer Chinesin.«
Clarissa lachte schallend.
»Jetzt haben Sie aber danebengeschossen! Das ist
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