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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Damen guckten mich von oben herab kühl an und entfernten sich wortlos. Ich sprang auf und rief, vor Wut kochend: »Sir, Sie haben die Damen mit Absicht hier festgehalten, um mich zum Gespött zu machen!« Fandorin antwortete mit unschuldiger Miene: »Ich habe sie in der Tat hier festgehalten, aber nicht, um Sie zum Gespött zu machen, Sir. Mir war nur die Idee gekommen, daß die beiden mit ihren weiten Röcken Ihr riskantes Unternehmen verdecken könnten. Aber wo ist denn nun das Beutestück?«
    Ich entfaltete die Serviette mit vor Erregung zitternden Händen, und wir erblickten etwas Seltsames. Ich zeichne es aus der Erinnerung auf:

     
    Was sind das für geometrische Figuren? Was bedeutet die Zickzacklinie? Was hat »Palace« damit zu tun? Und wozu die drei Ausrufungszeichen?
    Ich sah Fandorin verstohlen an. Er zupfte mit zwei Fingern an seinem Ohrläppchen und murmelte etwas Unverständliches. Ich vermute, auf russisch.
    »Was halten Sie davon?« fragte ich.
    »Abwarten«, antwortete der Diplomat mit rätselhafter Miene. »Er ist seinem Ziel nahe.«
    Wer ist nahe? Sweetchild? Welchem Ziel? Und ist es gut, daß er ihm nahe ist?
    Aber ich kam nicht dazu, alle diese Fragen zu stellen, denn im Saal setzte gewaltiger Applaus ein. Monsieur Drieux, der für die Betreuung der Passagiere zuständig ist, schrie ohrenbetäubend in den Trichter: »Also, Mesdames et Messieurs, der Grand Prix unserer Tombola geht an die Kabine Nummer achtzehn!« Bislang hatte mich die geheimnisvolle Serviette so in Anspruch genommen, daß ich nicht auf das Geschehen im Saal achtete. Dort hatte das Tanzen längst aufgehört, und es lief die Ziehung der Wohltätigkeitslotterie zugunsten gefallener Mädchen (ich schrieb Ihnen am 3. April von dieser blöden Idee). Meine Einstellung zur Wohltätigkeit und zu gefallenen Mädchen ist Ihnen bekannt, darum enthalte ich mich eines Kommentars.
    Die feierliche Verkündung wirkte sonderbar auf meinen Gesprächspartner – er verzerrte leidend das Gesicht und zog den Kopf zwischen die Schultern. Im ersten Moment wunderte ich mich, doch dann fiel mir ein, daß die Kabine Nr. 18 Mr. Fandorin gehörte. Stellen Sie sich vor, das Glückslos war auf ihn gefallen!
    »Das ist ja unerträglich«, murmelte der Auserwählte Fortunas und stotterte stärker als sonst. »Ich werde ein wenig spazierengehen.« Er wollte zur Tür retirieren, aber Mrs. Kleber rief schallend: »Das ist Monsieur Fandorin aus unserm Salon! Da ist er, meine Herrschaften! Im weißen Smoking mit roter Nelke! Monsieur Fandorin, wo wollen Sie hin? Sie haben den Grand Prix gewonnen!«
    Alle wandten sich dem Diplomaten zu und applaudierten noch heftiger. Vier Stewards trugen den Hauptpreis in den Saal: eine unglaublich häßliche Standuhr, die Big Ben nachbildete. Es war ein wahrhaft angsteinflößendes Gerät aus geschnitztem Eichenholz, anderthalb Mann hoch und mindestens vier Stones schwer. Ich sah in Mr. Fandorins Augen etwas wie Grauen, und ich kann ihn dafür nicht verurteilen.
    Ein weiteres Gespräch war unmöglich, und ich kehrte in meine Kabine zurück, um diesen Brief zu schreiben.
    Ich fühle gefährliche Ereignisse heranreifen, die Schlinge zieht sich um mich zusammen. Aber machen Sie sich keine Hoffnungen, meine Herren Verfolger, so einfach kriegen Sie mich nicht!
     
    Es ist schon spät, Zeit, die Koordinaten zu messen.
    Auf Wiedersehen, liebe, zärtliche, unendlich vergötterte Emily.
    In heißer Liebe Ihr
    Reginald Milford-Stokes

RENATE KLEBER
     
     
    Renate paßte Schnauzer (so nannte sie den alten Coche, seit sie wußte, was für einer er war) vor seiner Kabine ab. Nach der zerknitterten Visage und den zerrauften grauen Haaren des Kommissars zu urteilen, war er eben erst aufgestanden – er hatte sich wohl gleich nach dem Mittagessen hingelegt und bis zum Abend gegrunzt.
    Sie packte den Fahnder am Ärmel, stellte sich auf die Zehenspitzen und sprudelte hervor: »Ich muß Ihnen was erzählen!«
    Schnauzer warf ihr einen prüfenden Blick zu, kreuzte die Arme vor der Brust und sagte mit unguter Stimme: »Ich höre mit Interesse zu. Wollte ohnehin längst mal mit Ihnen sprechen, Madame.«
    Sein Ton ließ Renate aufhorchen, aber sie dachte – Unsinn, Schnauzer hat eine schlechte Verdauung, oder ihm ist im Traum eine krepierte Ratte erschienen.
    »Ich habe für Sie die Arbeit gemacht«, prahlte Renate und blickte nach rechts und links, ob auch niemand lauschte. »Gehen wir in Ihre Kabine, dort stört uns niemand.«
    Schnauzers

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