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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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neun sei, hätte die Frau des Doktors fast ihren Teelöffel verschluckt. Überdies war das Fundament des Turms offenkundig zu schmal, so daß dieser bei Wellengang gefährlich zu schwanken begann. So auch jetzt – als der Wind auffrischte und die weißen Gardinen vor den offenstehenden Fenstern flatterten wie zur Kapitulation, knarrte Big Ben bedrohlich.
    Der Russe schien die ernstgemeinte Begeisterung des Kommissars für Ironie zu nehmen und begann sich zu rechtfertigen: »Ich habe ihnen ges-sagt, sie sollen die Uhr auch den gefallenen Mädchen geben, aber Herr Drieux war unerbittlich. Ich schwöre bei Christus, Allah und Buddha, wenn wir in Kalkutta eintreffen, v-vergesse ich das Monstrum auf dem Schiff. Niemand soll es wagen, mir das Ungetüm aufzuzwingen!«
    Er warf einen besorgten Seitenblick auf Leutnant Regnier, doch der schwieg diplomatisch. Da guckte er auf der Suche nach Mitgefühl zu Renate hin, aber sie guckte finster zurück. Erstens hatte sie schlechte Laune, und zweitens war Fandorin bei ihr in Ungnade gefallen.
    Das war eine Geschichte für sich.
    Es hatte damit begonnen, daß ihr auffiel, wie die kränkliche Mrs. Truffo zusehends auflebte, wenn der reizende Diplomat in der Nähe war. Monsieur Fandorin gehörte allem Anschein nach zu der verbreiteten Art schöner Männer, die in jedem Dummchen etwas Pikantes erkennen konnten und nichts anbrennen ließen. Renate mochte diese Sorte Männer und war ihnen gegenüber nicht gleichgültig. Gar zu gern hätte sie gewußt, was für einen Vorzug der blauäugige brünette Russe an der faden Mrs. Truffo gefunden hatte. Daß er ein bestimmtes Interesse an ihr nahm, stand außer Zweifel.
    Ein paar Tage zuvor war Renate Zeugin einer spaßigen Szene zwischen den beiden Akteuren geworden: Mrs. Truffo (als Vamp) und Monsieur Fandorin (als tückischer Verführer). Das Publikum bestand aus einer jungen Dame (sehr attraktiv, wenngleich in anderen Umständen), die hinter einer hohen Chaiselonguelehne versteckt war und immer wieder in einen Handspiegel schaute. Schauplatz – das Achterschiff. Zeit der Handlung – der romantische Sonnenuntergang. Die Sprache des Stücks war Englisch.
    Mrs. Truffo pirschte sich mit plumper britischer Verführungskunst an den Diplomaten heran (beide handelnde Personen standen an der Reling, der erwähnten Chaiselongue halb zugewandt). Mrs. Truffo begann, wie es sich gehört, mit dem Wetter. »Hier in den südlichen Breiten scheint die Sonne so grell!« blökte sie leidenschaftlich.
    »O ja«, antwortete Fandorin. »In Rußland ist zu dieser Jahreszeit der Sch-schnee noch nicht getaut. Hier dagegen erreicht die Temperatur fünfunddreißig Grad Celsius, im Schatten, in der Sonne ist es noch heißer.«
    Nach dem erfolgreichen Abschluß des Vorspiels wähnte sich die zickige Person berechtigt, zu intimeren Themen überzugehen.
    »Ich weiß gar nicht, was ich machen soll!« versetzte sie mit der vom Thema vorgegebenen Schüchternheit. »Ich habe eine so empfindliche weiße Haut! Die sengende Sonne verdirbt mir den Teint und beschert mir womöglich noch Sommersprossen.«
    »Ich neige auch zu Sommersprossen«, antwortete der Russe mit tiefem Ernst. »Aber ich habe vorgesorgt und eine Lotion aus dem Extrakt der türkischen Kamille mitgenommen. Schauen Sie – die Bräunung ist gleichmäßig, und keine Sommersprossen.«
    Und der Verführer, diese Schlange, hielt der wohlanständigen Frau sein hübsches Gesicht hin.
    Mrs. Truffos Stimme zitterte verräterisch.
    »Tatsächlich, keine einzige Sommersprosse. Nur daß die Brauen und Wimpern ein wenig ausgeblichen sind. Sie haben ein schönes Epithel, Mr. Fandorin, einfach bildschön.«
    Gleich küßt er sie, prophezeite Renate, als sie das Epithel des Diplomaten nur noch fünf Zentimeter von der puterroten Physiognomie der Arztfrau entfernt sah.
    Sie irrte sich.
    Fandorin rückte ab und sagte: »Epithel? Sie kennen sich in Physiologie aus?«
    »Ein wenig«, antwortete Mrs. Truffo bescheiden. »Ich hatte vor meiner Heirat mit Medizin zu tun.«
    »Wirklich? Wie interessant! Das müssen Sie mir unbedingt e-erzählen!«
    Leider konnte Renate das Schauspiel nicht zu Ende genießen, denn eine Bekannte setzte sich zu ihr, und sie mußte die Beobachtung aufgeben.
    Aber die plumpe Attacke der dummen Mrs. Truffo hatte Renates Eitelkeit angestachelt. Ob sie auch mal die Wirkung ihrer Reize auf das appetitliche russische Bärchen ausprobierte? Natürlich nur aus rein sportlichem Interesse und um nicht die

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