Mord auf der Leviathan
Sie Regniers Benehmen im Zusammenhang mit der Ermordung Sweetchilds nicht verdächtig? Erinnern Sie sich, wie er sich erbot, den Schal für Madame Kleber zu holen? Und dann bat er noch den Professor, nicht ohne ihn anzufangen. Ich vermute, daß Regnier in den wenigen Minuten seiner Abwesenheit den Abfalleimer anzündete und das Skalpell aus seiner Kabine holte.«
»Und wieso meinen Sie, daß er das Skalpell hatte?«
»Ich sagte Ihnen doch, daß das Bündel des Negers nach der Durchsuchung des Schiffs aus dem Boot verschwunden war. Und wer leitete die Durchsuchung? Regnier.«
Coche schüttelte zweifelnd den Kopf. Das Schiff machte eine Schlingerbewegung, und er prallte schmerzhaft mit der Schulter gegen den Türrahmen. Seine Laune wurde davon nicht besser.
»Erinnern Sie sich, wie Sweetchild damals anfing?« fuhr Fandorin fort, riß die Uhr aus der Tasche und sprach immer schneller. »Er sagte, er habe alles geklärt, das mit dem Tuch und das mit dem Sohn. Man müsse nur noch in den Listen der Ecole Maritime nachsehen. Das heißt, er hatte nicht nur das Geheimnis des Tuchs ergründet, sondern auch etwas Wichtiges über den Sohn des Radschas in Erfahrung gebracht. Zum Beispiel daß der an der Marseiller Seefahrtsschule studiert hatte. Die übrigens auch unser Regnier absolviert hat. Der Indologe erwähnte ein Telegramm, das er an einen Bekannten im französischen Innenministerium geschickt habe. Möglicherweise wollte Sweetchild etwas über das Schicksal des Jungen herausfinden. Er muß auch einiges erfahren haben, aber wohl nicht, daß Regnier der Erbe Bagdassars ist, sonst würde er sich vorsichtiger verhalten haben.«
»Und was hat er über das Tuch herausgekriegt?« fragte Coche mit gierigem Interesse.
»Ich glaube, ich kann diese Frage beantworten. Aber nicht jetzt, später. Die Zeit drängt!«
»Sie meinen also, Regnier selbst hat den kleinen Brand inszeniert und die Panik genutzt, um dem Professor den Mund zu verschließen?« fragte Coche nachdenklich.
»Ja, verdammt noch mal, ja! Benutzen Sie doch Ihren Verstand! Wir haben wenig Beweise, ich weiß, aber in zwanzig Minuten läuft die ›Leviathan‹ in die Meerenge ein!«
Doch der Kommissar zögerte noch.
»Die Arretierung eines Kapitäns auf offener See ist Meuterei. Warum schenken Sie der Mitteilung dieses Herrn Glauben?« Er wies mit dem Kinn auf den verrückten Baronet. »Der redet doch immerfort Blödsinn.«
Der rothaarige Engländer lachte verächtlich auf und betrachtete Coche wie eine Laus oder Assel. Einer Antwort würdigte er ihn nicht.
»Weil ich Regnier schon lange im Verdacht habe«, stieß der Russe hervor. »Und weil die Geschichte mit Kapitän Cliff mir sonderbar vorkam. Wieso mußte der Leutnant so lange telegraphische Verhandlungen mit der Reederei führen? Weil man in London nichts von dem Unglück von Cliffs Tochter wußte? Wer hat dann das Telegramm nach Bombay geschickt? Die Direktion des Pensionats? Die dürfte kaum so genau über die Fahrstrecke der ›Leviathan‹ informiert gewesen sein. Hat vielleicht Regnier selbst die Depesche abgeschickt? In meinem Reiseführer steht, daß es in Bombay mindestens ein Dutzend Telegraphenpunkte gibt. Innerhalb der Stadt von einem Telegraphenpunkt zum nächsten zu telegraphieren ist ein leichtes.«
»Und weshalb zum Teufel war das so wichtig für ihn?«
»Um das Schiff in die Hand zu bekommen. Er wußte, daß Cliff nach der Mitteilung die Fahrt nicht fortsetzen konnte. Fragen Sie lieber, warum Regnier ein solches Risiko einging. Doch wohl nicht aus dummem Ehrgeiz, um eine knappe Woche lang ein Schiff zu kommandieren, und dann komme, was da wolle? Es gibt nur eine Theorie: um die ›Leviathan‹ zu versenken, mitsamt den Passagieren und der Besatzung. Die Ermittlung war schon zu dicht an ihn herangekommen, die Schlinge zog sich zusammen. Er wußte, daß die Polizei allen Verdächtigen auf die Pelle rückte. Eine Schiffskatastrophe würde alles zudecken. Dann könnte er in Ruhe nach der Schatulle mit den Edelsteinen fahnden.«
»Aber er würde doch mit uns untergehen.«
»Nein, er nicht. Wir haben eben nachgesehen – das Kapitänsboot ist bereit zum Fieren. Das ist ein kleines, aber stabiles Schiffchen, dem ein Sturm nichts anhaben kann. Es enthält einen Wasservorrat, einen Korb mit Lebensmitteln und, besonders rührend, eine Reisetasche mit Kleidungsstücken. Regnier will höchstwahrscheinlich das Schiff gleich nach dem Einlaufen in die Meerenge verlassen, aus der es nicht mehr
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