Mord auf der Leviathan
verständlich, aber ein Mann, dem eine Aufgabe anvertraut ist, hat nicht das Recht, sich von persönlichen Gefühlen leiten zu lassen. Besonders wenn er Kapitän ist und ein Schiff führt. Was würde aus einer Gesellschaft werden, deren Kaiser oder Präsident oder Premierminister Persönliches über seine Pflicht stellte? Es käme zum Chaos, während doch Sinn und Pflicht der Macht darin bestehen, das Chaos zu bekämpfen und die Harmonie zu befördern.
Ich ging wieder an Deck, um zu sehen, wie Mr. Cliff das ihm anvertraute Schiff verläßt. Und der Allmächtige erteilte mir eine neue Lehre, die Lehre des Mitleids.
Der Kapitän lief gebeugt die Schiffstreppe hinunter. In der Hand hielt er eine Reisetasche, und ein Matrose trug ihm einen Koffer hinterher. Auf der Landungsbrücke blieb der Kapitän stehen und drehte sich nach der »Leviathan« um, und ich sah sein großflächiges Gesicht naß von Tränen. Im nächsten Moment wankte er und stürzte zu Boden.
Ich eilte zu ihm. Nach seiner unterbrochenen Atmung und dem krampfhaften Zucken seiner Gliedmaßen zu urteilen, hatte er einen schweren hämorrhagischen Schlaganfall erlitten. Der herzueilende Doktor Truffo bestätigte meine Diagnose.
Ja, es kommt nicht selten vor, daß ein menschliches Gehirn den Zwiespalt zwischen der Stimme des Herzens und dem Ruf der Pflicht nicht aushält. Ich habe Kapitän Cliff unrecht getan.
Der Kranke wurde ins Hospital gebracht. Die »Leviathan«
blieb an der Landungsbrücke liegen. Regnier-san, dessen Haar von der Erschütterung ergraut war, fuhr zum Telegraphenamt, um mit der Londoner Reederei zu verhandeln. Erst in der Dämmerung kam er zurück. Die Neuigkeiten: Cliff-san habe das Bewußtsein nicht wiedererlangt, die Führung des Schiffs werde provisorisch Regnier-san übernehmen, und in Kalkutta werde der neue Kapitän an Bord kommen.
Wir legten mit zehnstündiger Verspätung von Bombay ab.
In all diesen Tagen ist mir, als schwebte ich dahin. Mich freuen der Sonnenschein, die indischen Küstenlandschaften und das gemessene, müßige Leben an Bord des großen Schiffs. Selbst im Salon »Hannover«, in den ich früher nur mit Beklemmung gegangen bin, wie zur Folter, fühle ich mich jetzt beinahe heimisch. Die Tischgenossen verhalten sich anders zu mir – ohne Abscheu und ohne Argwohn. Alle sind nett und liebenswürdig, und ich verhalte mich zu ihnen auch anders als früher. Selbst Kleber-san, die ich eigenhändig hätte erwürgen können (die Ärmste!), ist mir nicht mehr zuwider. Sie ist einfach eine junge Frau, die zum erstenmal Mutter wird und ganz von dem naiven Egoismus dieses für sie neuen Zustands durchdrungen ist. Seit sie weiß, daß ich Arzt bin, stellt sie mir unentwegt medizinische Fragen und klagt über kleine Unpäßlichkeiten. Früher ist Doktor Truffo ihr Opfer gewesen, jetzt tragen wir die Last zu zweit. Und das Erstaunlichste, es wird mir nicht zuviel. Mein Status ist bedeutend höher als in der Zeit, in der ich für einen Offizier gehalten wurde. Verblüffend!
Im »Hannover« genieße ich eine privilegierte Position. Nicht nur als Arzt, sondern, wie Mrs. Truffo sich ausdrückte, als unschuldiges Opfer polizeilicher Willkür. Die Hauptsache, ich bin mit Sicherheit nicht der Mörder. Das ist bewiesen und offiziell bestätigt. Dadurch gehöre ich nun zur höchsten Kaste – zusammen mit dem Polizeikommissar und dem frischgebackenen
Kapitän (der sich übrigens kaum noch bei uns sehen läßt, er ist sehr beschäftigt, und der Steward bringt ihm das Essen auf die Brücke). Wir drei sind außer Verdacht, und niemand wirft uns verstohlen furchtsame Blicke zu.
Diese ganze »Hannover«-Gesellschaft tut mir aufrichtig leid. Mit meinem neuerworbenen geistigen Auge sehe ich deutlich, was sie alle nicht sehen, nicht einmal der scharfsinnige Fandorin-san.
Unter meinen Nachbarn ist kein Mörder. Keiner von ihnen eignet sich für die Rolle des Verbrechers. Ich betrachte diese Leute und sehe: Sie haben Fehler und Schwächen, aber ein Mensch mit finsterem Herzen, der imstande wäre, kaltblütig elf unschuldige Menschen zu ermorden, darunter zwei Kinder, ist nicht unter ihnen. Ich würde seinen stinkenden Atem riechen. Ich weiß nicht, von wessen Hand Sweetchild-san gefallen ist, aber ich bin sicher, daß es niemand aus unserem Salon war. Der Kommissar hat sich ein wenig geirrt mit seinen Mutmaßungen: Der Verbrecher befindet sich an Bord des Dampfers, aber nicht im »Hannover«. Vielleicht hat er an der Tür gehorcht, als der
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