Mord auf der Leviathan
entschieden die ausschweifende Erzählerin.
»Sie sollten maritime Romane schreiben, Madame«, sagte der Doktor mißbilligend.
Renate saß wie erstarrt, die Hand auf dem Herzen. Ihr Gesicht war ohnehin bleich und unausgeschlafen, und jetzt nahm es einen grünlichen Schimmer an.
»Nein«, sagte sie und wiederholte: »Nein.«
Dann las sie Clarissa streng die Leviten: »Weshalb erzählen Sie mir solche grausigen Dinge? Wissen Sie nicht, daß ich so etwas in meinem Zustand nicht hören darf?«
Schnauzer war nicht am Tisch. Es sah ihm nicht ähnlich, das Frühstück zu versäumen.
»Wo ist denn Monsieur Coche?« fragte Renate.
»El velhölt noch immel den Allestanten«, meldete der Japaner. Er hatte in den letzten Tagen seine Menschenscheu abgelegt und sah Renate nicht mehr mit gehetzten Augen an.
»Hat Monsieur Regnier denn wirklich diese unvorstellbaren Dinge gestanden?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Er redet sich noch um Kopf und Kragen! Bestimmt hat sich nur sein Verstand getrübt. Wissen Sie, mir ist längst aufgefallen, daß er nicht ganz bei sich ist. Hat er denn selbst gesagt, daß er der Sohn des Radschas ist? Womöglich noch der Sohn von Napoleon Bonaparte. Der Ärmste ist einfach übergeschnappt, das ist doch klar!«
»Nicht ganz, gnädige Frau, nicht ganz«, ertönte hinter ihr die müde Stimme von Kommissar Coche.
Renate hatte ihn nicht hereinkommen hören. Der Sturm hatte zwar aufgehört, aber die See war noch unruhig, das Schiff schaukelte auf den wütenden Wellen, und fortwährend knirschte, klirrte, knarrte etwas. Der von der Kugel durchschlagene Big Ben schaukelte – früher oder später wird das eichene Monstrum hinkrachen, dachte Renate flüchtig und konzentrierte sich wieder auf Schnauzer.
»Nun, was gibt’s da, erzählen Sie!« forderte sie.
Der Polizist ging ohne Eile zu seinem Platz und setzte sich. Er winkte dem Steward, ihm Kaffee einzugießen.
»Uff, ich bin ganz erschöpft«, klagte er. »Was ist mit den Passagieren? Wissen alle Bescheid?«
»Das ganze Schiff summt, aber Einzelheiten weiß kaum jemand«, antwortete der Doktor. »Mir hat Mr. Fox alles erzählt, und ich habe es für meine Pflicht gehalten, die Anwesenden zu informieren.«
Coche blickte auf Fandorin und den rothaarigen Verrückten und schüttelte verwundert den Kopf.
»Meine Herren, Sie gehören ja nicht zu den Geschwätzigen.«
Den Sinn dieser Bemerkung begriff Renate wohl, doch das gehörte jetzt nicht zur Sache.
»Was ist mit Regnier?« fragte sie. »Hat er etwa all die Untaten gestanden?«
Schnauzer nippte mit Genuß an seinem Kaffee. Er war heute irgendwie verändert, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einem zahnlosen Kläffer. Er konnte durchaus zuschnappen, und wenn man nicht aufpaßte, riß er einem ein Stück Fleisch ab. Renate beschloß, den Kommissar in Bulldogge umzutaufen.
»Feines Käffchen«, lobte Coche. »Natürlich hat er gestanden. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Ich hatte freilich meine Plage mit ihm, aber der alte Coche hat ja große Erfahrung. Jetzt sitzt er da, Ihr Freund Regnier, und bringt seine Aussagen zu Papier, ist richtig in Fahrt gekommen. Ich bin gegangen, um ihn nicht zu stören.«
»Wieso ›mein Freund‹?« protestierte Renate. »Lassen Sie das. Er ist einfach ein höflicher Mensch, der einer schwangeren Frau kleine Gefälligkeiten erweist. Ich glaube nicht, daß er solch ein Monster ist.«
»Wenn er sein Geständnis fertig hat, geb ich’s Ihnen zu lesen«, versprach Bulldogge. »Aus alter Freundschaft. Wir haben ja viele Stunden zusammen an diesem Tisch gesessen. Das wär’s dann, die Untersuchung ist abgeschlossen. Ich hoffe, Monsieur Fandorin, Sie werden sich nicht zum Advokaten meines Kunden machen? Der kommt um die Guillotine nicht herum.«
»Eher ums Irrenhaus«, sagte Renate.
Der Russe wollte wohl auch etwas sagen, verzichtete aber. Renate sah ihn mit besonderem Interesse an. Er war so frisch und hübsch, als hätte er die ganze Nacht in seinem Bett geschlafen. Und wie immer piekfein angezogen: weißes Jackett, seidene Weste voller Sternchen. Ein sehr interessanter Typ, solchen war Renate noch nicht begegnet.
Da wurde die Tür so heftig aufgerissen, daß sie beinahe aus den Angeln flog. Auf der Schwelle stand ein Matrose, der wild mit den Augen rollte. Als er Coche sah, lief er zu ihm und flüsterte ihm etwas zu, dabei fuchtelte er verzweifelt mit den Armen.
Renate horchte, fing aber nur »Bastard« und »by my mothers grave« 2 auf.
Was mochte da
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