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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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passiert sein?
    »Doktor, kommen Sie in den Korridor.« Bulldogge schob mißmutig den Teller mit dem Rührei von sich weg. »Übersetzen Sie mir, was der junge Mann da murmelt.«
    Zu dritt gingen sie hinaus.
    »Waaas?« donnerte draußen der Kommissar. »Wo hattest du deine Augen, du Hund?«
    Sich entfernendes Füßetrappeln. Stille.
    »Ich rühre mich nicht von der Stelle, bis Monsieur Coche zurückkommt«, erklärte Renate entschlossen.
    Die übrigen schienen der gleichen Meinung zu sein.
    Im Salon »Hannover« herrschte gespanntes Schweigen.
     
    Der Kommissar und Truffo kehrten nach einer halben Stunde mit finsterer Miene zurück.
    »Es ist geschehen, was zu erwarten war«, verkündete feierlich der zu kurz geratene Doktor, ohne Fragen abzuwarten. »Unter die tragische Geschichte ist ein Punkt gesetzt. Das hat der Verbrecher selbst besorgt.«
    »Ist er tot?« schrie Renate und stand mit einem Ruck auf.
    »Selbstmord?« fragte Fandorin. »Aber wie? Hatten Sie keine V-vorsichtsmaßnahmen getroffen?«
    »Doch, hatte ich.« Coche breitete verdrossen die Arme aus. »Im Karzer, wo ich ihn verhörte, gab es nur einen Tisch, zwei Stühle und eine Pritsche, alles am Fußboden festgeschraubt. Aber wenn ein Mensch unbedingt sterben will, ist er nicht zu bremsen. Regnier hat sich die Stirn an einem Wandvorsprung eingeschlagen. Und das hat er so geschickt gemacht, daß draußen kein Laut zu hören war. Der Posten wollte ihm das Frühstück bringen und sah ihn in einer Blutlache am Boden liegen. Ich habe angeordnet, ihn nicht zu berühren, soll er erst mal liegenbleiben.«
    »Darf ich einen Blick auf ihn werfen?« fragte Fandorin.
    »Von mir aus. Genießen Sie den Anblick, solange Sie wollen, ich frühstücke erst mal.« Und Bulldogge zog seelenruhig das erkaltete Rührei zu sich heran.
    Zu viert gingen sie, um einen Blick auf den Selbstmörder zu werfen: Fandorin, Renate, der Japaner und, sonderbar, die Frau des Doktors. Wer hätte der etepeteten Ziege solche Neugier zugetraut?
    Renate blickte zähneklappernd über Fandorins Schulter hinweg in den Karzer. Sie sah die wohlbekannte breitschultrige Gestalt, schräg hingestreckt, den schwarzhaarigen Kopf an der Wand. Regnier lag mit dem Gesicht nach unten, der rechte Arm war unnatürlich verdreht.
    Renate ging nicht hinein, sie sah auch so genug. Die anderen hockten sich bei dem Toten hin.
    Der Japaner hob den Kopf des Selbstmörders an und berührte mit dem Finger die blutige Stirn. Richtig, er war ja Arzt.
    »Oh Lord, have mercy upon this sinful creature« 3 , sprach Madame Truffo fromm.
    »Amen«, sagte Renate und wandte sich von dem schrecklichen Anblick ab.
    Schweigend kehrten sie in den Salon zurück.
    Zur rechten Zeit – Bulldogge hatte seine Mahlzeit beendet, wischte die fettigen Lippen mit einer Serviette ab und nahm die schwarze Mappe zur Hand.
    »Ich habe versprochen, Ihnen die Aussagen unseres ehemaligen Tischgenossen zu zeigen«, sagte er unbewegt und legte drei dicht beschriebene Papierblätter vor sich hin, zwei ganze und ein halbes. »Es ist nicht nur ein Geständnis, sondern ein richtiger Abschiedsbrief. Aber das ändert nichts an der Sache. Möchten Sie hören?«
    Das mußte er nicht zweimal sagen, alle setzten sich rund um den Kommissar und hielten den Atem an. Bulldogge nahm das erste Blatt, hielt es ein Stück von den Augen weg und las vor.
     
    An den Vertreter der französischen Polizei
Herrn Kommissar Gustave Coche
    19. April 1878, 6.15 Uhr
    an Bord der »Leviathan«
     
    Ich, Charles Regnier, mache das folgende Geständnis freiwillig und ohne jedweden Zwang, einzig aus dem Wunsch, mein Gewissen zu erleichtern und die Beweggründe zu erklären, die mich zu den schweren Verbrechen trieben.
    Das Schicksal ist immer grausam mit mir umgegangen …
     
    »Nun, dieses Lied habe ich schon tausendmal gehört«, kommentierte der Kommissar. »Noch kein Mörder, Räuber oder Kinderschänder hat vor Gericht gesagt, das Schicksal habe ihn mit guten Gaben überschüttet und er, der Lump, sei ihrer nicht würdig gewesen. Na schön, hören wir weiter.
     
    Das Schicksal ist immer grausam mit mir umgegangen, und wenn es mir in der Morgenröte des Lebens freundlich gesonnen war, dann nur, um mich später um so schmerzlicher zu treffen. Meine frühen Jahre verliefen in unbeschreiblichem Luxus. Ich war der einzige Sohn und Erbe eines märchenhaft reichen Radschas, eines sehr gütigen Mannes, der die Weisheit des Ostens wie des Westens in sich aufgenommen hatte. Bis zu meinem

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