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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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sicherten mir mein Seefahrtsbuch und ausgezeichnete Empfehlungen den Sieg. Aber zu der Zeit hatte ich bereits ein großes Ziel.
     
    Coche nahm das zweite Blatt und kündigte an: »Und jetzt kommt das Interessanteste.«
     
    Als Kind hatte ich Unterricht im Arabischen gehabt, aber die Lehrer waren dem Erbprinzen gegenüber zu nachsichtig, und so hatte ich nur wenig gelernt. Später, als Mutter und ich in Frankreich waren, hörte der Unterricht gänzlich auf, und ich vergaß bald das wenige, was ich wußte. Viele Jahre lang dünkte mich der Koran mit den Anmerkungen meines Vaters ein verwunschenes Buch, in dessen magischen Schriftzeichen sich ein gewöhnlicher Sterblicher niemals zurechtfinden kann. Wie dankbar war ich später dem Schicksal, daß ich nicht einen Kenner des Arabischen gebeten hatte, mir die Randbemerkungen
zu übersetzen! Nein, ich mußte, koste es, was es wolle, selber in dieses Geheimnis eindringen. Wieder beschäftigte ich mich mit dem Arabischen, während ich den Maghreb und die Levante bereiste. Nach und nach begann der Koran mit der Stimme meines Vaters zu mir zu sprechen. Aber es dauerte lange Jahre, bis die handschriftlichen Notizen – blumige Aussprüche von Weisen, Bruchstücke von Gedichten und Lebensratschläge des liebenden Vaters für den Sohn – mir andeuteten, daß sie eine Chiffre in sich bargen. Wenn ich die Notizen in einer bestimmten Reihenfolge las, gewannen sie den Sinn einer genauen und eingehenden Instruktion, aber das konnte nur jemand erkennen, der die Notizen auswendig gelernt, viel darüber nachgedacht und sie im Gedächtnis seines Herzens fixiert hatte. Am längsten grübelte ich über eine Zeile aus einem mir unbekannten Gedicht:
     
    Das Tuch, von Vaters Blut gerötet,
    wird dir der Todesbote bringen.
     
    Als ich vor einem Jahr die Memoiren eines englischen Generals las, der sich mit seinen »Heldentaten« während der Großen Empörung brüstete (mein Interesse an diesem Thema dürfte verständlich sein), erfuhr ich von dem Geschenk, das der Radscha von Brahmapur vor seinem Tod seinem Sohn gemacht hatte. Also war der Koran in ein Tuch eingewickelt gewesen! Mir fiel es wie Schuppen von den Augen! Ein paar Monate später stellte Lord Littleby im Louvre seine Sammlung aus. Ich wurde der eifrigste Besucher. Als ich endlich das Tuch meines Vater sah, ging mir die Bedeutung dieser Zeilen auf:
     
    Mit seiner zugespitzten Form
    ähnelt’s dem Berge und der Zeichnung.
     
    Und auch dieser:
     
    Des Vogels bodenloses Auge
    blickt ins Geheimnis tief hinein.
     
    Muß ich erklären, daß ich in all den Jahren der Austreibung immer über die irdene Schatulle nachsann, in welcher aller Reichtum der Welt verborgen war? Oft genug habe ich im Traum erlebt, wie der Deckel aufgeht und ich wieder, wie in der fernen Kindheit, den überirdischen Glanz sehe.
    Der Schatz gehört mir, ich bin der gesetzliche Erbe! Die Engländer haben mich bestohlen, konnten aber die Früchte ihres Treubruchs nicht genießen. Der schäbige Aasgeier Littleby, der sich mit seinen gestohlenen »Raritäten« brüstete, war in Wirklichkeit ein gewöhnlicher Hehler. Ich hatte nicht die geringsten Zweifel daran, im Recht zu sein, und fürchtete nur eines – daß ich die gestellte Aufgabe nicht bewältige.
    Ich habe in der Tat eine Reihe unverzeihlicher, schrecklicher Fehler gemacht. Der erste war der Tod der Diener und besonders der armen Kinder. Natürlich wollte ich diese gänzlich unschuldigen Menschen nicht töten. Wie Sie richtig erraten haben, war ich als Arzt verkleidet, und ich habe ihnen eine Opiumlösung injiziert. Ich wollte sie nur in Schlaf versetzen, aber aus Unerfahrenheit und aus Furcht, das Schlafmittel könnte nicht wirken, habe ich die Dosis falsch berechnet.
    Die zweite Erschütterung erwartete mich oben. Als ich das Glas der Vitrine zerschlagen hatte und mit vor Andacht zitternden Händen das Tuch meines Vaters ans Gesicht drückte, wurde plötzlich eine der Türen aufgerissen, und der Hausherr kam humpelnd heraus. Nach meinen Informationen sollte der Lord verreist sein, doch nun stand er plötzlich vor mir, noch dazu mit einer Pistole in der Hand! Ich hatte keine Wahl. Ich nahm die Schiwa-Statuette und schlug sie mit aller Kraft dem
Lord über den Kopf. Er stürzte nicht rückwärts, sondern nach vorn, umfaßte mich mit den Armen und beschmierte meine Kleider mit Blut. Unter dem offenstehenden weißen Kittel trug ich die Paradeuniform, deren dunkelblaue Hose mit roten Streifen den Hosen des

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