Mord auf der Leviathan
neunten Lebensjahr wußte ich nicht, was Bosheit, Angst,
Kränkung, ein nicht erfüllter Wunsch ist. Meine Mutter litt an Heimweh in dem fremden Land und verbrachte ihre ganze Zeit mit mir, sie erzählte mir von dem schönen Frankreich und dem fröhlichen Paris, wo sie aufgewachsen war. Mein Vater hatte sie zum erstenmal im Klub »Bagatelle« gesehen, wo sie die erste Tänzerin war, und sich besinnungslos in sie verliebt. Françoise Regnier (so der Mädchenname meiner Mutter – ich habe ihn angenommen, als ich die französische Staatsbürgerschaft bekam) erlag den Verlockungen, welche ihr die Ehe mit dem orientalischen Herrscher verhieß, und wurde seine Frau. Aber die Heirat brachte ihr kein Glück, obwohl sie meinen Vater aufrichtig schätzte und ihm bis auf den heutigen Tag die Treue bewahrte.
Als die Welle der blutigen Empörung über Indien hinwegging, spürte mein Vater die Gefahr und schickte seine Frau und seinen Sohn nach Frankreich. Der Radscha wußte, daß die Engländer seit langem auf die Schatulle erpicht waren und gewiß eine Niedertracht aushecken würden, um die Schätze von Brahmapur in ihren Besitz zu bringen.
In der ersten Zeit lebten meine Mutter und ich in Paris sehr luxuriös – in einer eigenen Villa, umgeben von einer zahlreichen Dienerschaft. Ich besuchte eine privilegierte Schule, zusammen mit den Söhnen von gekrönten Häuptern und Millionären. Aber dann änderte sich alles, und ich mußte den Kelch der Not und der Demütigung bis zur Neige leeren.
Niemals vergesse ich den furchtbaren Tag, an dem meine Mutter mir unter Tränen eröffnete, ich hätte keinen Vater, keinen Titel und keine Heimat mehr. Ein Jahr später wurde mir über die britische Botschaft in Paris das einzige Erbstück meines Vaters ausgehändigt – ein Koran. Zu der Zeit hatte meine Mutter mich schon taufen lassen, und ich ging zur Messe, aber ich schwor mir, arabisch zu lernen und unbedingt Vaters Randnotizen
in dem Heiligen Buch zu lesen. Viele Jahre später habe ich diese Absicht verwirklicht, darauf komme ich noch zurück.
»Geduld, Geduld«, sagte Coche und lächelte verschmitzt. »Wir kommen noch dahin. Einstweilen haben wir Lyrik.«
Aus der Villa zogen wir aus, gleich nachdem wir die traurige Nachricht bekommen hatten, zunächst in ein teures Hotel, dann in ein einfacheres und schließlich in ein möbliertes Zimmer. Die Dienerschaft wurde immer kleiner, und zuletzt waren wir nur noch zu zweit. Meine Mutter war noch nie praktisch gewesen, weder in ihrer stürmischen Jugend noch später. Die Juwelen, die sie nach Europa mitgenommen hatte, reichten zwei bis drei Jahre, danach gerieten wir richtig in Not. Ich besuchte eine gewöhnliche Schule, wo sie mich verprügelten und »Neger« nannten. Dieses Leben lehrte mich, verschlossen und nachtragend zu sein. Ich führte ein heimliches Tagebuch, in dem ich die Namen meiner Beleidiger festhielt, um mich an jedem einzelnen zu rächen, wenn sich die Gelegenheit bot. Und früher oder später kam eine solche Gelegenheit. Einen der Feinde aus meiner unglücklichen Jugend traf ich viele Jahre später in New York. Er erkannte mich nicht – ich trug einen anderen Namen und hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem gehetzten mageren »Truthahn«, wie sie mich in der Schule hänselten. Eines Abends lauerte ich dem alten Bekannten auf, als er betrunken aus der Kneipe kam. Ich nannte ihm meinen früheren Namen und unterbrach seinen erstaunten Ruf, indem ich ihm das Klappmesser ins rechte Auge stieß, eine Methode, die ich in den Spelunken von Alexandria gelernt hatte. Ich gestehe diesen Mord, weil er mein Los kaum noch erschweren dürfte.
»Das stimmt«, bestätigte der Kommissar. »Auf eine Leiche mehr oder weniger kommt es nicht an.«
Als ich dreizehn war, zogen wir von Paris nach Marseille, weil das Leben dort billiger war und weil meine Mutter dort Verwandte hatte. Mit sechzehn tat ich einen Schritt, an den ich gar nicht denken mag, ich lief von zu Hause weg und heuerte als Schiffsjunge auf einem Schoner an. Zwei Jahre lang befuhr ich das Mittelmeer. Es war eine schwere, doch nützliche Erfahrung. Ich wurde stark, gelenkig und mitleidlos. Das half mir später, in der Marseiller Ecole Maritime der beste Schüler zu werden. Ich beendete die Schule mit einer Medaille und bin seither auf den besten Schiffen der französischen Handelsflotte gefahren. Als Ende letzten Jahres der Posten des Ersten Offiziers auf dem Superschiff »Leviathan« ausgeschrieben wurde,
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