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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
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seine Gewohnheit war. «Lach bitte nicht über mich. Ich weiß, ich sehe aus wie Achilles’ Schildkröte.»
    «Achilles’ Schildkröte?», wiederholte ich dumm, «ich habe noch nie etwas von Achilles’ Schildkröte gehört.»
«Aber sicher», widersprach er bestimmt. «Du kennst doch die Geschichte von der Schildkröte, die sich auf einen Wettlauf mit Achilles einlässt, oder? Eine Dummheit meinst du? Nein, ganz im Gegenteil. Es ist nämlich eine alte, kluge Schildkröte. Sie weiß, dass sie zehnmal langsamer läuft als er. Also bittet sie um einen Vorsprung von 10 Klaftern.»
«Und?»
«Sie gewinnt. Achilles kann sie nicht einholen.»
«Wie kann das sein?»
«Ganz einfach: Wenn Achilles ihren Vorsprung von zehn Klaftern eingeholt hat, ist sie einen Klafter weiter. Richtig?»
«Richtig!»
«Hat er den Klafter zurückgelegt, ist sie ein zehntel Klafter vor ihm. Richtig?»
«Richtig.»
«Ein zehntel Klafter weiter, hat sie immer noch einen Vorsprung von einem hundertstel – ja?»
«Ja.»
«Siehst du, so geht es weiter bis ins Unendliche. Achilles kann sie nicht überholen. Sie ist ihm immer ein Zehntel voraus.» Er lachte und hatte dabei wirklich etwas von einer alten Schildkröte. Dann sah er meine Wange und runzelte die Stirn.
«Woher diese Kratzer?», fragte er und zeigte mit dem Finger auf die Schrammen. «Die letzten, die mein Gesicht zierten, verdankte ich einem Wutanfall meines treuen Weibes.»
«Lykon», antwortete ich.
«Oh», bemerkte er, «es kratzen also auch die Untreuen … Was wolltest du denn von deinem alten Eromenos ? »
«Wer sagt dir, dass ich etwas von ihm wollte?», antwortete ich ausweichend. Sokrates sah mich an.
«Niemand, ich dachte nur … Vielleicht lassen dich ja gewisse Fragen ebenso wenig los wie mich», antwortete er, und ich hatte das Gefühl, als sähe er mir direkt durch die Augen in die Seele. Warum sollte ich ihm etwas vorspielen?
«Du hast recht», gestand ich, «und ich vermute, du weißt genau, wieso ich zu ihm gegangen bin.»
Sokrates nickte und hakte sich bei mir unter. «Komm, ich begleite dich ein Stück. Die Spartaner werden heute ohnehin nicht angreifen.»
«Nein? Wieso meinst du?»
«Wieso sollten sie die Tore erstürmen, die man ihnen bald öffnen wird?»
Ich verstand die Bemerkung nicht, war aber froh um seine Begleitung. Ich brauchte jemanden, mit dem ich reden konnte, und Sokrates war ein guter Zuhörer. Er blieb ganz ruhig, während der andere sprach, auch wenn man etwas ganz Törichtes sagte. Es war, als verstünde er alles, und sei es auch noch so dumm. Erst wenn man sich ganz ausgesprochen hatte, begannen seine Fragen …
«Es geht um Periander und Kritias», fing ich an, während wir gemeinsam und ohne uns zu sehr zu beeilen zum Doppeltor gingen, «du weißt, dass er für mich Perianders Mörder ist.»
Sokrates nickte.
«… es spricht einfach alles gegen ihn. Er ist der Urheber dieses unsäglichen Pamphlets. Er ist der Anführer der Aristokraten, denen Periander sich angeschlossen hatte. Ihn muss Platon decken, weil er sein Onkel ist … Aber …» Ich sprach nicht weiter. Ich wusste, Sokrates würde den Satz ganz allein fortsetzen können.
«Aber du hast keinen Beweis gegen ihn, nicht wahr?», fuhr Sokrates lapidar fort.
«Nein, keinen Beweis, und trotzdem weiß ich es. Ich weiß es mit jeder Faser meines Körpers, wenn du verstehst, was ich meine.»
Sokrates blieb stehen. Normalerweise hätte er jetzt eine Frage gestellt. Eine seiner Fragen, etwa ob es denn ein Wissen gebe, das nicht zu beweisen sei oder dergleichen. Aber Sokrates war nicht nur ein großer Lehrer, er war auch ein großer Freund, und deswegen schonte er mich.
«Und konnte Lykon dir helfen?», fragte er stattdessen.
«Er wollte nicht … Aber er hat mich gewarnt. Er meinte, ich würde noch dasselbe Ende nehmen wie mein Vater, wenn ich nicht aufhörte, in dieser alten Geschichte zu wühlen. Es sei alles zu groß und zu gefährlich für mich.»
« Zu groß und zu gefährlich », wiederholte Sokrates, «hat er das gesagt?»
    «Ja, ich glaube: Für dich ist das Ganze z u groß und zu gefährlich, das hat er gesagt.»
«Das passt zu ihm», stellte Sokrates fest.
«Zu Lykon? Ich wusste gar nicht, dass du ihn kennst», meinte ich irritiert.
«Nein, nicht zu Lykon, zu Kritias …» entgegnete er beinahe abwesend, und irgendetwas in der Art, wie er diesen Namen aussprach und dabei in die Ferne sah, gab mir die Gewissheit, dass er sich an etwas ganz Bestimmtes erinnerte.
Wir hatten das Tor beinahe

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