Mord im Garten des Sokrates
zurückgekehrt waren, hatten kaum ein Dach über dem Kopf, geschweige denn Land, das sie hätten bestellen können. Baten sie zunächst noch um Arbeit gegen einen Teller Suppe, boten sie bald schon ihre Söhne und Töchter auf den Märkten feil. Die Bettler auf der Agora, die früher nach einer Münze gefragt hatten, flehten um ein Stückchen Brot und drohten sich gegenseitig totzuschlagen, wenn einer ihr Revier verletzte. Bald klopften Kinder mit weiten Augen und hohlen Wangen an jedes Tor und warfen sich für einen wurmstichigen Apfel auf die Knie. Dann traf es auch die Bürger: zunächst die kleinen Handwerker und Krämer, dann die Händler, Marktbeschicker und Kaufleute, Lagerhalter, Sklavenhändler und Sklavenhalter, Ärzte und Salber, die Manufakturisten und Minenbesitzer. Die Preise für Korn kletterten täglich höher, und wer wohlhabend war, musste bestürzt erkennen, dass er sein Silber nicht essen konnte. Verschont blieben nur die einen, diejenigen, die immer verschont werden, die Großgrundbesitzer, und natürlich gehörte Kritias zu ihnen. Während schon die ersten Kinderleichen verbrannt wurden, sah ich ihn noch fröhlich und wohlgenährt durch die Straßen reiten, zwei Wachen an jeder Seite, die ihm die Hungernden vom Leib hielten.
Aber ich will ehrlich sein: Zu meinem großen Glück und manchmal auch zu meiner Beschämung traf es auch meine Familie nicht so wie die übrige Stadt. Ich hatte das Geschäft meines Vaters in den letzten Jahren vernachlässigt und viel mehr Vorräte an Wein, Öl und Honig in unseren Kellern angelegt, als kaufmännische Vernunft dies billigen konnte. Raios, mein Onkel und Schwiegervater, hatte denn auch schon mehr als nur einmal mahnende Worte an mich gerichtet, um mich wieder auf den Pfad der geschäftlichen Tugenden zu führen, fürchtete er doch um das Wohl seiner Tochter, vor allem aber seiner Enkel. Nun verderben Wein, Öl und Honig nicht, und während der Hunger wie ein Fluch über Athen kam, lagerten Hunderte Fässer sizilianischen Weins, apulischen Öls und mazedonischen Honigs in den Kammern unter unserem Haus und wurden zu höchst begehrten Tauschwaren auf den zahllosen Schwarzmärkten um die Tempel. Der Wein, das Öl und der Honig wurden zu flüssigem Gold, ja zu mehr noch als Gold. Sie halfen mir, meine Familie durch die Zeit der Belagerung und des Hungers zu bringen, und mehrten meinen Wohlstand.
Eine Schande, eine Schmach? Der Kaufmann einmal mehr als Kriegsgewinnler? Ich bekenne, dass ich in jenen Monaten der Belagerung Athens zu essen hatte und gleichwohl nicht an meine Mitbürger, sondern nur an die Meinen dachte. Meine Keller halfen mir, meine Familie zu retten, während ich mit meinen Metöken auf den Mauern stand und Tag für Tag vergeblich auf den Angriff wartete. Die Spartaner draußen vor den Mauern wurden dagegen gut versorgt. Lysanders Flotte bildete die Seebrücke zu den fruchtbaren Äckern ihrer Heimat, wo die Heloten das Land für ihre Herren bestellten, das diese ihnen geraubt hatten. Mein Verhalten war nicht tugendhaft, gewiss, aber es ist ein merkwürdiges Ding um die Tugend. Ein jeder führt sie im Munde, ein jeder opfert ihr vor dem Zeus-Altar ein mageres Huhn, solange er noch fette Vögel in seinem Stall stehen hat – und doch schickt er nur seines Nachbars Kinder auf das Feld der Ehre, während er die eigenen verbirgt. Ich kenne Generäle, die ihre großen und starken Söhne in Weiberkleider hüllten, um sie vor den Soldatenwerbern und Rekruteuren in Sicherheit zu bringen. Und hat Achilles’ Mutter aus Angst um ihren Sohn nicht genau dasselbe getan? Es gibt Momente, da denkt jeder nur an die Seinen, und so tat ich es auch.
Drei volle Monate lagen die spartanischen Truppen schon vor unserer Stadt. Die Kornvorräte Athens waren beinahe aufgebraucht, da erhielten wir endlich Nachricht von den Unterhändlern, die wir zu unseren Feinden geschickt hatten. Die Botschafter aus Sparta seien zurück, meldeten gleich zwei Soldaten aufgeregt und wie aus einem Munde eines Morgens, als ich meinen Dienst antrat.
«Und gibt es schon Nachrichten? Verhandeln die Spartaner über den Frieden?», wollte ich wissen. Ich bekam nur ein Schulterzucken zur Antwort. Die Soldaten hatten nur gesehen, wie die Männer, die vor Monaten nach Lakonien aufgebrochen waren, heute Morgen in aller Frühe erschöpft zurückgekehrt waren, mehr nicht, sagten sie entschuldigend und plötzlich eigentümlich verhalten.
Natürlich machte die Nachricht schnell die Runde. Die Sonne
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