Mord im Garten des Sokrates
wissen. Kanntest du Kritias schon, als wir ihn damals bei Perianders Eltern getroffen haben?»
Wieder sah Lykon mich an, und für einen kurzen Augenblick glaubte ich, hinter diesem geschminkten Gesicht etwas von dem Knaben zu erkennen, der mir einst nahe gewesen war. Lykon antwortete nicht sofort. Er schien zu überlegen, ob es ihm schaden könne, wenn er mir die Wahrheit sagte.
«Wieso willst du das wissen?», fragte er vorsichtig.
«Nichts weiter», heuchelte ich. «Ich hatte damals nur so ein Gefühl … Kritias hat dich von Anfang an so behandelt, als würdet ihr euch schon kennen. Ich will es nur wissen, reine Neugier. Also, habe ich recht?»
Lykon ging weiter und starrte vor sich auf den Boden. Wenigstens fiel es ihm schwer, mir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.
«Heißt das ja?», fragte ich.
«Ja», antwortete er leise.
Es war beinahe dunkel. Mittlerweile hatten wir die nördliche Stadtmauer erreicht. Um diese Zeit standen nur noch wenige Soldaten zur Wache auf den Zinnen. Selbst die Spartaner kämpften nicht bei Nacht. In den Türmen wurden ein paar Fackeln angezündet.
«Ist alles ruhig?», rief ich den Männern zu.
«Alles ruhig», kam es zurück. «Die Spartaner sitzen an ihren Lagerfeuern und schlagen sich die Bäuche voll!»
Wir gingen schweigend weiter. Ich fühlte mich Lykon völlig fremd. Dann stellte ich die Frage, die mir schon die ganze Zeit auf der Seele brannte.
«Hast du irgendetwas mit Perianders Tod zu tun?»
«Nein, das habe ich nicht.» Die Antwort kam schnell und ehrlich. Ich hatte keinen Zweifel, dass Lykon die Wahrheit sagte.
«Aber du weißt etwas über seinen Tod, nicht wahr?»
«Nein, Nikomachos», erwiderte er. Diesmal hatte er einen Augenblick gezögert. «Woher sollte ich?»
«Von Kritias vielleicht? Immerhin wart ihr euch nahe, wie ich vermute …», erwiderte ich. Ich musste mir größte Mühe geben, nicht wie ein verschmähter und eifersüchtiger Liebhaber zu klingen.
Plötzlich schrie er mich an: «Kritias hat mit Perianders Tod nichts zu tun!» Ich war überrascht, mit welcher Heftigkeit er dies sagte, aber ich glaubte ihm nicht.
«Habe ich dir eigentlich je erzählt, wie Periander damals umgebracht worden ist?», fragte ich, während wir nun wieder in Richtung Innenstadt gingen. «Er ist erstickt worden …»
Er fiel mir ins Wort, fast noch heftiger als gerade eben noch: «Ich möchte das nicht wissen!», brüllte er.
«Oh, das tut mir sehr leid, aber es ist wichtig», sprach ich seelenruhig weiter. Je mehr Lykon sich aufregte, desto gelassener wurde ich und desto mehr genoss ich es, ihn zu quälen.
«Wie gesagt, er ist erstickt worden. Auf ziemlich grausame Art und Weise, oder besser: auf ziemlich grausame und ungewöhnliche Art und Weise. Stell dir vor, zuerst hat man ihm fast den Schädel eingeschlagen. Mit einem schweren Stock oder einem Knüppel. Aber das brachte ihn nicht um und war dem Mörder auch nicht genug. Periander war ohnmächtig und wehrlos. Das muss dem Mörder gefallen haben, denn er hat dem armen Jungen einen Papyrus in den Rachen gestopft, ganz tief in den Rachen hinein. Hierhin bis tief in den Kehlkopf.» Ich zeigte Lykon die Stelle mit dem Finger. Seine Hände zitterten.
«Ich habe gesehen, wie Hippokrates es von dort wieder hervorgeholt hat mit einer Art feiner, langer Zange … Dann hat der Mörder den armen Periander ganz lange festgehalten und ihm den Mund zugedrückt, bis er erstickt ist. Das muss recht lange gewesen sein. Der Papyrus war übrigens aus einem Buch – nicht aus irgendeinem Buch, wie du dir denken kannst …»
«Es war die ! Ich weiß das, und ganz Athen weiß das, weil du nämlich nicht müde geworden bist, es jedem zu erzählen», schleuderte Lykon mir ins Gesicht. «Kannst du diese alte Geschichte nicht endlich vergessen? Wem nützt es denn, wenn du wieder anfängst, deine Nase überall reinzustecken!»
Seine Stimme hatte sich überschlagen. Zwei Soldaten, die gerade an uns vorbeikamen, schüttelten die Köpfe, gingen aber weiter. Was mochten sie wohl denken, was hier vor sich ging? Ein Streit zwischen einem Freier und einem Stricher?
«Was ist das für ein Lärm!», schallte es aus einem der Häuser. Ich legte Lykon die Hand auf den Mund, damit er still blieb, aber er versuchte sofort, sich freizumachen. Irritiert hielt ich ihn nur umso stärker fest, als er mir auch schon seine Krallen in die Wange schlug. Er versuchte, mir das Gesicht zu zerkratzen wie ein bösartiges Katzentier. Ich griff seine Handgelenke und drückte ihn
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