Mord im Garten des Sokrates
nicht.
Wir wissen, Sparta hat unsere Flotte mit zweihundert Schiffen angegriffen. Wir haben unsere Trieren und Tausende von Soldaten verloren. Das ist furchtbar. Aber mir bereitet noch etwas anderes Sorge, weil ich es nicht verstehe. Seit gestern zermartere ich mir den Schädel,und jetzt frage ich euch: Woher hat Sparta die Schiffe? Woher hatte Sparta das Silber für ihren Bau? Woher hat eine Stadt, die so gut wie keinen Handel treibt und keinen Hafen besitzt, zweihundert Trieren? Überlegt es euch. Ich weiß es nicht.»
Sokrates setzte sich wieder. Die gesamte Pnyx blieb für einen Augenblick stumm und sprachlos. Niemand wusste eine Antwort.
Die Versammlung ging an diesem Tag nur sehr langsam auseinander. Obwohl sich die Männer gerade erst gegenseitig verflucht und zerstritten hatten, fühlten sie sich doch sicherer beieinander. Sie hatten Angst; mir ging es nicht anders. Athen sah seinem Schicksal unmittelbar ins Angesicht, und es waren die Züge des Krieges und seiner Verwüstungen, die es erblickte. Wie viele griechische Städte hatten wir selbst versklavt, in diesem Krieg, der nun Jahrzehnte dauerte? Wie viele Männer getötet, Frauen geschändet und zusammen mit ihren Kindern auf den Sklavenmärkten verkauft? Hatten wir Gnade gewährt, als unsere Opfer auf Knien darum bettelten? Und wie oft hatten wir selbst schon ehrenvolle Friedensangebote Spartas in den Wind geschlagen? Was würde Sparta mit unserem Friedensangebot tun, das, für jedermann sichtbar, aus Schwäche und Verzweiflung geboren war? Sparta, die Stadt, die wie keine andere dem Krieg selbst geweiht war? Hatten wir der Phalanx ihrer Männer und Speere auch nur irgendetwas entgegenzusetzen, jetzt, da sie nicht mehr nur die Herren des Landes, sondern auch die Herren der See waren? Und wie waren sie dazu geworden? Welche Teufelei mochte hier nur im Spiel sein? Dies waren die Fragen, die ich, wie jeder andere auch, mit mir nach Hause trug.
Auch in dieser Nacht fand ich keine Ruhe. Erst in den frühen Morgenstunden geriet ich in jenen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, in welchem sich die finstersten Albträume verbergen. Aspasia saß bei mir und streichelte mir über den Kopf. Ich glaube, auch sie hat kein Auge zugetan.
Am nächsten Tag ritt ich nach Piräus. Ich erwartete ein Schiff mit Honig und Wein aus Mazedonien. Schon mein Vater hatte gute Beziehungen zu einigen Kaufleuten dort unterhalten. Das Schiff war seit drei Tagen überfällig; für heute erwartete ich seine Ankunft sicher. Wie ich es immer tat, wenn ich zu den Häfen kam, besuchte ich Chilon, der hier noch immer im Haus seiner Eltern lebte und sich um seine alte Mutter kümmerte. Das Anwesen seiner Familie lag auf einem kleinen Hügel nördlich des Handelshafens. Von seinen oberen Zimmern aus konnte man die drei Häfen und den halben Golf überblicken. Wenn ich die Rückkehr eines Schiffes erwartete, saß ich oft zusammen mit Chilon hier oben. Wir sprachen miteinander und sahen zusammen auf das Meer hinaus.
Chilon war schon lange nicht mehr der Jüngling, als den ich ihn kennengelernt hatte. Ein guter und angesehener Arzt war inzwischen aus ihm geworden. «Den kleinen Hippokrates» nannten ihn die Leute, und das war keinesfalls abwertend gemeint, galt er doch als rechtmäßiger und ebenbürtiger Nachfolger seines Lehrers. Nur Chilon selbst wollte von solchen Vergleichen nichts wissen. Er vermisste seinen Meister. Oft sprachen wir über ihn und fragten uns, wann Hippokrates wohl nach Athen zurückkommen würde.
Mein Freund begrüßte mich herzlich und rief sofort seinen Helfer Melatos, damit der sich um Ariadne kümmerte. Sein besorgtes Gesicht und die schwarzen Ringe unter den Augen verrieten mir, dass er in den letzten Nächten ebenso wenig geschlafen hatte wie ich.
«Du hast davon gehört?», fragte ich, um irgendetwas zu sagen. Chilon bejahte.
Chilon hatte an jenem Tag keine Patienten und konnte mich daher gleich nach oben begleiten. Wir setzten uns und sahen über die Bucht und die Häfen hin. Mein Schiff war weit und breit nicht in Sicht. Ja es schien überhaupt kein Schiff einzukommen – ein ungewöhnlicher Anblick für Piräus an einem so strahlenden Tag. Das türkisfarbene Wasser des Saronischen Golfs lag wie ein Spiegel vor uns. Die Sonnenstrahlen blinkten auf den Wellen, und silberne Reflexe tanzten auf seiner Oberfläche. Die Hafenmöwen drehten ihre Kreise in der salzigen Luft. Weit und breit war kein Schiff zu sehen. An den Molen saßen die Sklaven und starrten auf
Weitere Kostenlose Bücher