Mord im Garten des Sokrates
mehr.»
«Polemarchos», sagte Sokrates, «er heißt Polemarchos. Du hast recht, er war Hoplit auf der Paralos. Lasst uns zu Lysias gehen!»
Wir verließen den Marktplatz Richtung Pnyx und HenkerTor, um auf kürzestem Weg zu Kephalos’ Haus zu gelangen. Wo wir nur vorbeikamen und wen wir auch trafen, überall sahen wir die gleiche Unruhe, die gleiche Verstörung, die gleiche Angst. Niemanden schien es mehr im eigenen Haus zu halten. Die Menschen strömten auf die Straßen, Wege und Plätze und sprachen mit jedem, der ihnen nur entgegenkam, egal, ob der nun arm, reich, alt oder jung und von welcher Hautfarbe er war. Der Reiche sprach mit dem Bettler, der Müßiggänger mit dem Handwerker und der Freie mit dem Sklaven … In ihrer Angst kamen sich die Athener mit einem Male nahe wie Brüder. Wieso brauchte man immer nur die Angst dazu?
Und die Furcht war begründet. Traf es zu, dass die Stadt ihre Flotte verloren hatte, war Athen einem Angriff vom Meer aus wehrlos ausgeliefert. Die Langen Mauern schützen uns vor Attacken zu Land, aber Piräus mit seinen drei Häfen war zum Wasser hin natürlich offen und damit die Achillessehne der Stadt. Wer hätte es auch je für möglich gehalten, dass Athens Flotte uns nicht mehr würde verteidigen können? Welche Seemacht hätte uns trotzen sollen?
Ich drängte meine Freunde zur Eile. Sicher hatte irgendein Nachbar schon bei mir zu Hause angeklopft und Aspasia die beunruhigende Nachricht übermittelt. Ich wollte so schnell wie möglich zu ihr.
Das Haus des Kephalos war hell erleuchtet. Links und rechts vom Haupteingang standen zwei Bronzeschalen, aus denen helle Flammen züngelten. Durch die Fenster und die Ritzen des Portals drang Lampenschein.
Sokrates klopfte laut gegen das Tor und rief seinen Namen. Nur einen kurzen Moment später öffnete uns die schöne dunkelhäutige Sklavin, die mich und Lysias einst bedient hatte. Ich betrat dieses Haus seit damals zum ersten Mal. Die Sklavin war in den Jahren zur Frau gereift und noch betörender geworden, als sie mir im Gedächtnis stand. Aristippos, der neben mir eintrat, schien alle Sorgen um die Athener Flotte sofort zu vergessen. Er öffnete die Augen weit und verneigte sich vor ihr. Verlegen sah die Sklavin zu Boden und bat uns, ihr zu folgen. Xenophon beobachtete die Szene missmutig und schüttelte den Kopf.
Wir waren nur ein paar Schritte Richtung Innenhof gegangen, als uns auch schon Lysias entgegenkam. Sein Gesicht war ernst wie im Angesicht des Todes.
«Kommt mit», sagte er gehetzt, «wir sind im Garten. Polemarchos ist gerade erst angekommen. Es ist eine Katastrophe!»
Wir fanden Kephalos’ gesamte Familie zusammen mit einigen Nachbarn und Freunden im von Lampions und Fackeln beleuchteten Peristyl . Die Menschen drängten sich zu Polemarchos hin, der bleich und müde auf einer Bank saß und mit brüchiger, kaum hörbarer Stimme berichtete. Der junge Mann schien wenig gealtert in den letzten Jahren, aber er war noch erschöpfter als damals, fast gebrochen – ein erschreckender Anblick, wenn er uns in einem so jungenhaften, freundlichen Gesicht begegnet. Als wir uns zu der Gruppe der Zuhörer stellten, hielt Polemarchos kurz inne und sah auf. Er erkannte mich wohl und lächelte mir bitter zu.
«Wie viele Schiffe hatten die Spartaner?», fragte Sokrates unvermittelt. Die Laternen warfen unruhige Schatten auf sein silenenhaftes Antlitz.
«Ich weiß es nicht genau», antwortete Polemarchos, «zweihundert, dreihundert … Ihre Flotte war deutlich größer als unsere, und wir waren mit ganzen 180 Trieren unterwegs. Ich habe noch nie eine so große Streitmacht gesehen.»
«Erzähl es uns bitte», sagte Sokrates. Polemarchos nickte.
«Die Paralos segelte vorab, vor der restlichen Flotte. Wir sahen die Spartaner zuerst. Ich werde den Anblick nie vergessen: Die See war ruhig, der Wind kam vom Westen her. Wir nahmen Kurs zum Hellespont und machten gute Fahrt. Es hieß, Sparta habe eine unsere Kolonien angegriffen, Lampsakos, und wir beschlossen, uns den Spartaner entgegenzuwerfen … das Meer ist unser, nicht wahr? Plötzlich kam ein Schrei von einem Jungen, der Wache hielt. ‹ Hilfe, oh Gott, so viele Schiffe!› Wir haben ihn ausgelacht. Und dann sahen wir sie selbst. Eine Triere neben der anderen. Soweit das Auge reichte, und vorab das Flaggschiff Spartas mit der Fahne Lysanders. Sie blockierten den ganzen Hellespont.»
«Aber sie griffen euch nicht an?», fragte Sokrates.
«Nein», erwiderte Polemarchos. «Sie griffen uns nicht
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