Mord im Garten des Sokrates
das Meer. Es gab nichts zu tun. Es war keine Ladung zu löschen. Die großen Holzkräne standen still. Die Taue an ihren Armen baumelten im Wind. Es war, als ob Piräus am helllichten Tage schliefe.
«Seit wann ist es hier so ruhig?», fragte ich Chilon. «Seit wann bleiben die Schiffe aus?»
«Ich weiß es nicht genau. Es ist mir noch gar nicht richtig aufgefallen. Gestern war noch ganz normaler Betrieb … Heute Morgen wurde es plötzlich leise. Ich habe mir nichts dabei gedacht – bis eben», antwortete er beunruhigt.
«Glaubst du, die Spartaner blockieren die Einfahrt?», fragte ich.
Chilon zuckte mit den Schultern. «Ich weiß es nicht. Irgendetwas ist merkwürdig.»
Wir verstummten und starrten zum Hafen. Ein Schiff, irgendwann müsste doch ein Schiff auftauchen! Nichts. Vor uns lag nur das weite Meer. Die Wellen schlugen gegen die Docks. Das leise Rauschen des Wassers machte mich schläfrig.
«Möchtest du dich ein wenig hinlegen?», fragte Chilon nach einer Weile. «Ich kann dich rufen, wenn dein Schiff ankommt.»
Ich schreckte auf. Ich musste für einen Moment eingenickt sein.
«Nein, entschuldige bitte. Ich habe in den letzten beiden Nächten nicht geschlafen.» Ich streckte mich, um den Schlaf aus meinen Gliedern zu vertreiben. Plötzlich erinnerte ich mich wieder an sein Gesicht und seinen toten Körper. Ich hatte von ihm geträumt.
«Weißt du, an wen ich gerade denken musste?», fragte ich.
«Wie könnte ich das?», gab Chilon zurück.
«An Periander», sagte ich, ohne meinen Blick auf meinen Freund zu richten. «Seit dieses Unglück über die Stadt gekommen ist, denke ich wieder an ihn …»
«Und in den letzen vier Jahren?»
«Kein einziges Mal … Seltsam, nicht?»
Chilon schob seinen Stuhl zurück. Er saß jetzt ein Stück hinter mir, sodass ich ihn nicht mehr sehen konnte. Er schwieg, aber ich hörte seinen ruhigen Atem.
«Ich habe meine Arbeit damals nicht zu Ende gebracht. Perianders Mörder lebt immer noch unter uns, angesehen und reich. Wie ich ihn kenne, besucht er sogar noch Perianders Eltern und lässt sich dafür danken, diesen armen Hund von Lysippos angeklagt und vor seinen Henker gebracht zu haben.»
«Du glaubst immer noch, dass Kritias Periander umgebracht hat?», fragte Chilon.
«Ich bin mir sicher», erwiderte ich, «ganz sicher.»
«Wie kannst du so überzeugt sein?»
«Er ist der Autor der ! Er hat es vor allen bekannt. Erinnerst du dich nicht an diesen Satz? ‹Die Armut musste ihn ins Verbrechen treiben!› Wie er sich damals vor dem Areopag aufgebaut hat …», erwiderte ich bitter.
Chilon antwortete nicht, aber ich fühlte, dass er etwas auf dem Herzen hatte.
«Was ist mit dir?», fragte ich. «Möchtest du mir etwas sagen?»
«Du bist mein Freund, und ich will dich nicht verletzen», begann Chilon zögernd. «Aber ich fürchte, allein der Umstand, dass Kritias dieses Buch geschrieben hat, beweist nicht, dass er auch der Mörder dieses armen Jungen ist.»
«Du hast recht», gab ich zu, «aber das ist auch nicht der einzige Beweis.»
«Sondern?»
«Platon!», entgegnete ich, wohl ahnend, Chilon würde sich auch von diesem Argument nicht so leicht überzeugen lassen. Wir sprachen nicht zum ersten Mal über Kritias als Perianders Mörder.
«Erklär es mir», bat er mich, obwohl ich es sicher schon einmal getan hatte.
«Du weißt doch, Platon und Periander standen sich sehr nahe. Als ich mit Platon über Perianders Tod sprach, ist er vor meinen Augen zusammengebrochen. Ich bin mir sicher, er und Periander liebten sich. Trotzdem hat Platon mir bei meiner Suche nach dem Mörder zu keiner Zeit geholfen oder mir auch nur zu helfen versucht. Er kannte Periander wie kein anderer. Er kannte seinen Umgang, seine Sorgen und seine Wünsche. Sokrates hatte mir erzählt, dass Periander in den letzten Wochen vor seinem Tod sehr besorgt war, beinahe verzweifelt. Platon muss gewusst haben, was ihn bedrückte. Aber er hat es mir nie gesagt. Er hat mir gar nichts gesagt. Und er meidet mich noch heute …», antwortete ich.
«Was schließt du daraus?»
«Ich schließe daraus, dass er den Mörder deckt. Er deckt ihn, weil er ihm nahesteht, sehr nahe, so nahe, wie man nur einem Angehörigen stehen kann. Er deckt seinen Onkel.»
«Du kannst recht haben, was Platon angeht», sagte Chilon ganz und gar ruhig. «Aber Kritias ist nicht der einzige Angehörige Platons …»
«Aber der einzige, der die geschrieben hat», fiel ich ihm schroff ins Wort. Noch nicht einmal von Chilon, den ich wie einen Bruder zu
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