Mord im Garten des Sokrates
um sie stand, denn normalerweise rührte sie keinen Tropfen an. Selbst im Halbdunkel unserer kleinen Lampe sah ich den Vorwurf in ihrem Blick.
«Hast du schon gehört?», fragte ich. Sie nickte. Ihr Vater war hier gewesen und hatte ihr die schlechten Neuigkeiten überbracht, aber kaum mehr gewusst, als dass die Paralos allein in Piräus eingelaufen war und alle Welt von einer schlimmen Schlacht erzählte, die gefochten und verloren worden zu sein schien. Da Aspasia wusste, wie sehr ihr Vater zu Übertreibungen neigte, hatte sie ihm nur die Hälfte geglaubt und war deswegen längst nicht so beunruhigt, wie ich angenommen hatte.
«Aber wieso sitzt du dann noch um diese Zeit im Garten und trinkst Wein?», fragte ich. Aspasia antwortete nicht. Im Schein der Lampe sah ich grüne Blitze in ihren Augen.
«Du bist nicht etwa eifersüchtig?» Sie schüttelte den Kopf. Deutlicher konnte sie gar nicht antworten.
«Aber ich war mit Sokrates zusammen! Wir sind zu Kephalos und Lysias gegangen, um herauszubekommen, was es mit der verlorenen Seeschlacht auf sich hat», versuchte ich zu erklären.
Sie schwieg. Natürlich war sie eifersüchtig gewesen, als ich so lange nicht zurückgekommen war. Sie hatte mich schon in den Armen irgendeiner Hetäre oder – schlimmer noch – bei einem jungen Mann vermutet. Als ich ihr nun den Grund dafür nannte, wieso ich sie so lange hatte warten lassen, und dabei das gesamte Ausmaß des Abgrundes schilderte, vor dem die Stadt stand, da schien sie, rätselhaft, wie Frauen nun einmal sind, beinahe erleichtert. Erst als sich dieser böse Knoten löste, den die Eifersucht in ihrer Seele geknüpft hatte, teilte sie den Schrecken mit mir, den die Nachricht um die verlorene Schlacht in sich barg.
Wir gingen gemeinsam zu Bett und lagen uns lange in den Armen. Wir sprachen nicht, aber wir fanden doch keine Ruhe.
Wir waren in unserer Angst nicht allein. Es heißt, in dieser Nacht habe in Athen niemand auch nur ein Auge zugetan, und ich glaube, das ist wahr. Wir alle fürchteten nun ein Schicksal, das wir anderen schon bereitet hatten. Die Herrin der Meere war verloren …
Ich weiß nicht, woran es lag, aber in dieser weißen Nacht voller Schrecken und Furcht dachte ich zum ersten Mal seit dem Tod meines Vaters wieder an Periander, wie er damals nackt und leblos in seinem kargen Zimmer vor mir gelegen hatte, an Periander und an seinen Mörder.
schon am nächsten tag fand auf der Pnyx eine Vollversammlung statt. Zwei von den Prytanen durch die Straßen gejagt Herolde genügten, um an einem einzigen Vormittag beinahe alle volljährigen Männer der Stadt zusammenzubringen, aber es dauerte fast bis zum Abend, bis wir uns vernünftig beraten konnten. Unruhe und Anspannung waren ungeheuer, und sie entluden sich wie ein Gewitter nach einem schwülen Tag. Die Männer redeten durcheinander, stritten und brüllten sich an. Immer wieder gingen sie aufeinander los und drohten, sich die Köpfe einzuschlagen. Vor allem die Nachbarn und Freunde der unglücklichen Feldherrn luden den Zorn der anderen auf sich. Hätten die Toxotai nicht immer wieder eingegriffen, es hätte Tote gegeben. So wurden die Freunde der Admiräle wegen der verlorenen Schlacht beschimpft und ihre Nachkommen bis ins Glied der Urenkel verflucht, blieben aber an ihrem Leib immerhin unversehrt. Erst als die Streithähne von Hitze und Ärger erschöpft waren, konnten die notwendigsten Beschlüsse gefasst werden: Es galt, Piräus so schnell wie möglich zu befestigen, die Langen Mauern auszubessern, wo es nötig war, und die Stadt zu bewaffnen, womit es nur ging. Der Angriff, das wussten wir, gehörte Sparta und seinen furchtbaren Kriegern. Wir erwarteten ihn kraftvoll und bald – einen großen Aufmarsch ihrer Hopliten zu Lande und eine Attacke ihrer nun riesigen Flotte zur See. Darauf mussten wir vorbereitet sein. War dieser erste Angriff abgewehrt, konnte man vielleicht verhandeln.
Die Versammlung stand kurz vor ihrer Auflösung, als Sokrates sich erhob und um Ruhe bat. Es war augenblicklich still. Niemals zuvor haben ihm die Athener so aufmerksam zugehört.
«Freunde und Mitbürger!», sagte er laut und sicher. «Ich weiß, unser Treffen ist schon zu Ende. Die Entscheidungen sind getroffen, und ihr wollt nach Hause zu euren Frauen. Ich will euch nicht lange aufhalten und stelle nur eine Frage. Sie geht mir seit gestern Abend nicht mehr aus meinem alten Kopf und lässt sich nicht verscheuchen. Vielleicht kennt ihr die Antwort, denn ich kenne sie
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