Mord im Herbst: Roman (German Edition)
vielleicht zu viel gesagt hatte. Oder sie wollte einfach ihren Kummer mit jemandem teilen.
»Ist das wirklich möglich?«, fragte Wallander vorsichtig.
»Alles ist möglich. Ich warte nur auf den Tag, an dem der Rechnungshof entdeckt, dass wir eingestellte Ermittlungen als aufgeklärte deklariert haben.«
»Es fällt auf uns zurück«, sagte Wallander. »Die Öffentlichkeit wird uns angreifen.«
»Nein«, wandte Martinsson ein. »Die Leute sind doch nicht dumm. Sie sehen, dass wir immer weniger und weniger werden. Sie wissen, dass nicht wir das Problem sind.«
Liza Holgersson stand auf. Die Besprechung war beendet. Sie wollte das unerfreuliche Gespräch über die Schummelei mit den nicht aufgeklärten, aber dennoch als aufgeklärt deklarierten Verbrechen nicht weiterführen. Martinsson und Wallander kehrten in eins der Sitzungszimmer zurück. Im Korridor stießen sie mit Linda zusammen, die auf dem Weg nach draußen war, um Streife zu fahren.
»Wie ist es gelaufen?«
»Wie erwartet«, antwortete Wallander. »Wir haben zu viel zu tun. Also tun wir so wenig wir können.«
»Das ist ungerecht«, sagte Martinsson.
»Natürlich ist es ungerecht. Wer sagt denn, dass es bei Polizeiarbeit um Gerechtigkeit geht?«
Linda schüttelte den Kopf und ging eilig weiter.
»Was du da zuletzt gesagt hast, habe ich nicht verstanden«, sagte Martinsson.
»Ich auch nicht«, sagte Wallander belustigt. »Aber es kann nicht schaden, wenn die junge Generation etwas zum Grübeln hat.«
Sie setzten sich an den Tisch. Übers Haustelefon rief Martinsson Stefan Lindman an. Nach einigen Minuten erschien er mit einem Aktenordner in der Hand.
»Verschwundene Personen«, sagte Wallander. »Nichts ist so spannend wie Menschen, die sich in Luft auflösen. Sie gehen aus dem Haus, um Milch zu kaufen, und kommen nie zurück. Oder die, die eine Freundin besuchen und danach nie wieder auftauchen. Besonders junge Frauen, die verschwinden, beschäftigen die Fantasie der Leute. Ich selbst erinnere mich an eine, die Ulla hieß und irgendwann in den Fünfzigerjahren nach einer Tanzveranstaltung in Sundbyberg verschwand. Sie wurde nie gefunden. Ich kann mich sogar noch an ihr Gesicht erinnern, wenn ich mir Mühe gebe.«
»Es gibt eine Statistik«, sagte Stefan Lindman. »Dafür, dass die Polizei sie erstellt hat, ist sie sehr zuverlässig. Die allermeisten Menschen, die als vermisst gemeldet werden, tauchen nach kurzer Zeit wieder auf, nach ein paar Tagen oder vielleicht einer Woche. Nur eine ganz geringe Anzahl wird nie gefunden.«
Er klappte den Ordner auf.
»Ich habe ein wenig in der Vergangenheit gegraben«, sagte er. »Um den Zeitraum einzugrenzen, um den es sich nach Ansicht der Ärzte handelt, habe ich zwischen 1935 und 1955 gesucht. Unsere Register, auch die historischen und die, die von nicht abgeschlossenen Ermittlungen handeln, sind gut gefüllt. Ich glaube, ich habe ein ziemlich gutes Bild gewonnen über verschwundene Frauen, die in diesem Zusammenhang infrage kommen könnten.«
Wallander beugte sich über den Tisch vor.
»Was hast du gefunden?«
»Nichts.«
»Nichts?«
Stefan Lindman nickte.
»Du hast ganz richtig gehört. In dem betreffenden Zeitraum gibt es keine einzige Frau im passenden Alter, die in dieser Gegend als vermisst gemeldet wurde. Es gibt auch keine in Malmö. Ich dachte, ich wäre einer Frau auf der Spur, einer Neunundvierzigjährigen aus Svedala, die im Dezember 1942 aus ihrer Wohnung verschwand. Aber sie kam einige Jahre später zurück. Sie war mit einem Soldaten aus Stockholm durchgebrannt, der hier unten einberufen war. Sie bekam es satt, die Leidenschaft kühlte ab, und sie kehrte nach Hause zurück. Abgesehen von ihr gab es nichts.«
Sie schwiegen und dachten über Stefan Lindmans Aussage nach.
»Niemand ist als vermisst gemeldet«, sagte Martinsson nach einer Weile. »Aber eine Frau wird in einem Garten vergraben. Sie ist ermordet worden. Jemand muss sie vermisst haben.«
»Sie kann ja von sonst woher gekommen sein«, sagte Stefan Lindman. »Eine landesweite Erfassung aller Frauen im passenden Alter, die in jenen Jahren verschwunden sind, würde natürlich ein ganz anderes Resultat ergeben. Außerdem war damals Krieg, und viele Menschen waren in Bewegung. Unter anderem Flüchtlinge, die wohl kaum ordnungsgemäß gemeldet waren.«
Wallander verfolgte einen anderen Gedanken.
»Ich sehe es so«, sagte er. »Wir wissen nicht, wer die Frau ist. Wir wissen aber, dass sie begraben wurde. Jemand hat einen
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