Mord im Herbst: Roman (German Edition)
wäre nicht geheim geblieben.«
»Meine Erfahrung sagt mir, dass man Geheimnisse haben kann, wo immer man wohnt.«
Wallander sah, dass Linda interessiert die Augenbrauen hochzog.
»Das kann man sicher. Aber nicht vor meiner Mutter. Sie verfügte über eine Intuition, wie ich sie bei keinem anderen Menschen bemerkt habe.«
»Außer bei mir«, sagte ihre Tochter Lena.
»Das stimmt. Das hast du von deiner Großmutter geerbt. Vor dir kann man die Wahrheit auch nicht verbergen.«
Kristina Fredberg wirkte überzeugend. Wallander war sicher, dass sie nicht bewusst versuchte, etwas zu verschweigen, was für die Polizei vielleicht wichtig war. Aber konnte sie wirklich so sicher sein, was ihr Vater getan oder nicht getan hatte, als er die drei Jahre während des Krieges allein auf dem Hof gelebt hatte?
»Die beiden Knechte«, sagte er. »Einer kam aus Dänemark? Wie hieß er?«
»Jörgen. Das weiß ich noch. Aber er ist tot. Er starb an einer Krankheit, ich glaube, es waren die Nieren. Er starb schon in den Fünfzigerjahren.«
»Es gab noch einen zweiten Knecht?«
»Das behauptete mein Bruder Ernst. Aber einen Namen habe ich nie gehört.«
»Vielleicht gibt es Bilder? Oder Lohnzettel?«
»Ich glaube eher, dass mein Vater ohne Papiere bezahlt hat. Und Fotos habe ich nie gesehen.«
Wallander goss sich Kaffee nach.
»Kann es eine Magd gewesen sein?«, fragte Linda plötzlich.
Wallander wurde ärgerlich wie jedes Mal, wenn er meinte, Linda habe sich einen Übertritt in seine Domäne erlaubt. Sie konnte dabei sein und zuhören und lernen, aber sie sollte keine eigene Initiative ergreifen, ohne vorher mit ihm zu sprechen.
»Nein«, antwortete Kristina Fredberg. »Damals gab es keine Mägde. Haushälterinnen vielleicht. Aber keine Mägde. Ich bin wirklich überzeugt, dass mein Vater keine Affäre mit einer anderen Frau hatte. Ich weiß nicht, wer die Frau ist, die da im Garten vergraben liegt. Der Gedanke lässt mich schaudern. Aber ich bin sicher, dass mein Vater mit der Sache nichts zu tun hatte. Auch wenn er dort wohnte.«
»Warum sind Sie davon überzeugt? Entschuldigen Sie, dass ich diese Frage stelle.«
»Mein Vater war ein freundlicher und friedlicher Mann. Er hat nie einem Menschen etwas zuleide getan. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals einen meiner Brüder geschlagen oder auch nur an den Haaren gezogen hat. Er war ganz einfach unfähig dazu, ärgerlich zu werden. Muss man nicht trotz allem ein wenig unkontrollierte Wut in sich haben, um einen anderen Menschen zu töten? Das glaube ich jedenfalls.«
Wallander hatte nur noch eine Frage.
»Ihre Geschwister sind tot. Aber gibt es sonst jemanden, mit dem ich Ihrer Meinung nach sprechen sollte? Jemanden, der andere Erinnerungsbilder haben könnte?«
»Das ist so lange her. Alle aus der Generation meiner Eltern sind schon lange fort. Meine Geschwister auch, wie gesagt. Ich wüsste nicht, wer das sein könnte.«
Wallander stand auf. Er gab den beiden Frauen die Hand. Linda und er verließen die Wohnung.
Auf der Straße stellte Linda sich vor ihn hin.
»Ich will keinen Vater, dem beim Anblick eines hübschen Mädchens, das jünger ist als ich, der Sabber aus dem Mund läuft.«
Wallander fuhr aus der Haut.
»Sag mal, spinnst du? Ich hab nicht gesabbert. Ich fand sie hübsch. Aber erzähl mir nicht, dass ich mich danebenbenehme. Du kannst mit dem Zug nach Ystad zurückfahren. Und ausziehen und woanders wohnen.«
Er drehte sich um und ging los. Erst als er schon beim Wagen war, holte sie ihn ein. Sie stellte sich wieder vor ihn.
»Ich bitte um Entschuldigung. Ich wollte dich nicht verletzen.«
»Ich will nicht, dass du mich erziehst. Und ich will nicht, dass du mich zwingst, jemand zu werden, der ich nicht bin.«
»Ich sage ja, dass ich mich entschuldige.«
»Das höre ich.«
Linda wollte noch mehr sagen. Aber Wallander stoppte sie mit einer Handbewegung. Es reichte jetzt. Das Gespräch brauchte nicht fortgeführt zu werden.
Sie fuhren nach Ystad zurück. Erst hinter Svaneholm begannen sie wieder miteinander zu sprechen. Linda teilte seine Meinung, dass trotz allem etwas in den Jahren geschehen sein konnte, in denen Ludvig Hansson allein auf seinem Hof gelebt hatte.
Wallander versuchte, sich einen Ereignisverlauf vorzustellen. Aber da war nichts. Nur diese Hand, die aus dem Boden ragte.
Der Wind wehte schärfer. Er dachte, dass der Winter jetzt sehr nah war.
15.
Am Tag danach, Freitag, dem 8. November, wachte Wallander früh auf. Er
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