Mord im Herbst: Roman (German Edition)
es »höllisch kalt«, während es im Juli 1942 viel zu trocken war, als dass Ludvig Hansson auf »gute Ernteerträge hoffen« kann.
Wallander las. Er las, dass diverse Geburtstage gefeiert wurden und es zuweilen Begräbnisse gab, die entweder »schmerzlich« oder »zu lang« waren. Die ganze Zeit saß Katja Blomberg dabei und steckte sich eine Zigarette nach der anderen an.
Wallander war beim letzten Kalender angekommen, dem von 1944, ohne dass er das Gefühl hatte, Ludvig Hansson nähergekommen zu sein oder Details gefunden zu haben, die Licht auf die Skelettfunde werfen könnten.
Plötzlich hielt er inne. Es war der 12. Mai 1944. Ludvig Hansson schreibt: »Die Esten sind gekommen. Drei Stück, Vater, Mutter und Sohn. Kaarin, Elmo und Ivar Pihlak. Vorschuss gezahlt.« Wallander legte die Stirn in Falten. Wer waren diese Esten? Wofür war Vorschuss gezahlt worden? Er blätterte langsam weiter. Am 14. August findet sich ein neuer Eintrag: »Die Zahlungen wieder pünktlich. Die Esten freundlich, bereiten keine Probleme. Gutes Geschäft.« Was war das für ein gutes Geschäft? Er blätterte weiter. Erst am 21. November kommt ein neuer Eintrag, zugleich der letzte: »Sie sind abgereist. Schlecht sauber gemacht.«
Wallander ging die losen Papiere durch, die in der Kiste lagen, fand jedoch nichts, was ihn aufmerken ließ.
»Ich muss diese Kalender hierbehalten«, sagte er. »Die Kiste bekommen Sie natürlich zurück.«
»Steht was Interessantes drin?«
»Vielleicht. 1944 scheint eine estnische Familie dort gewohnt zu haben. Zwischen dem 12. Mai und Ende November.«
Wallander dankte ihr und ließ die Kalender auf dem Tisch liegen. Konnte dies die Lösung sein? Eine estnische Familie, die 1944 auf dem Hof wohnt? Aber sie reisen ab, sie sterben nicht. Ludvig Hansson dürfte sie kaum umgebracht haben.
Martinsson wollte gerade zum Mittagessen gehen, als Wallander in sein Zimmer kam. Er bat Martinsson, das Essen ein wenig warten zu lassen. Stefan Lindman war in eins der zahlreichen Archive oder Register abgetaucht, für die er zuständig war. Sie setzten sich. Wallander erklärte, während Martinsson in den Kalendern blätterte.
Als Wallander endete, wirkte Martinsson nicht überzeugt.
»Das klingt nicht besonders glaubwürdig.«
»Es ist der erste neue konkrete Anhaltspunkt, den wir haben.«
»Drei Personen. Eine ganze Familie. Wir haben zwei Skelette gefunden. Nyberg ist sicher, dass es keine weiteren gibt.«
»Eins kann ja woanders vergraben sein.«
»Wenn man annimmt, dass sie sich illegal oder heimlich hier aufhielten, dürfte es nicht leichtfallen, sie aufzuspüren.«
»Wir haben immerhin Namen. Drei Namen. Kaarin, Elmo und Ivar Pihlak. Auf jeden Fall müssen wir sehen, ob sie uns was bringen.«
Martinsson stand auf, um zu seinem verspäteten Mittagessen zu kommen.
»Ich an deiner Stelle würde mit dem Einwohnermeldeamt anfangen«, sagte er. »Auch wenn es wenig wahrscheinlich ist, dass sie da zu finden sind.«
»Es gibt keine bessere Stelle, um anzufangen«, sagte Wallander. »Dann sehen wir weiter.«
Wallander verließ das Polizeipräsidium. Er sollte etwas essen, dachte er. Aber er sollte so vieles.
Einen kurzen Moment kehrte seine Lustlosigkeit zurück, als er mit dem Zündschlüssel in der Hand hinter dem Lenkrad saß. Dann riss er sich zusammen, ließ den Wagen an und machte sich auf die Suche nach der estnischen Familie.
22.
Die Frau hinter dem Schreibtisch beim Einwohnermeldeamt hörte ihm freundlich zu. Aber als Wallander seine Geschichte beendet hatte, machte sie ihm wenig Hoffnung.
»Das wird schwer«, sagte sie. »Wir haben schon früher Besucher hier gehabt, die nach Spuren von Menschen aus den baltischen Ländern gesucht haben, die während des Krieges in Schonen gelebt haben. Sie sind der erste Polizeibeamte. Aber es hat viele andere Anfragen gegeben. Vor allem von Angehörigen. Aber selten können wir die Gesuchten lokalisieren.«
»Wie ist das zu erklären?«
»Viele haben vielleicht falsche Namen angegeben. Sie hatten ja keinerlei Ausweispapiere, als sie hier ankamen. Aber der wichtigste Grund ist natürlich, dass in den baltischen Ländern während des Krieges und danach so viel passiert ist.«
»Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele von diesen Flüchtlingen sich nie registrieren ließen?«
»Vor ein paar Jahren hat jemand in Lund eine Examensarbeit darüber geschrieben. Den darin enthaltenen Angaben zufolge haben sich zirka fünfundsiebzig Prozent
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