Mord Im Kloster
entgeht. Woher der Bischof überhaupt Kenntnis vom Brief des Abtes Thomas an dich hatte, ist mir weiter unbegreiflich.«
»Es könnte sein, dass es Zufall war«, meinte Henri. »Er war gerade Gast im Tempel, was übrigens öfter geschieht, und erfuhr vom Präzeptor davon. Man tauscht sich eben aus. Vielleicht steckt aber auch mehr dahinter.«
»Und was wäre das, deiner Meinung nach?«
Henri sagte nachdenklich: »Vielleicht wusste der Bischof schon von dem Brief, als der Abt ihn in St. Albans schrieb! Und er wollte unbedingt wissen, was darin steht.«
»Ich nehme an, der Bischof Savior kennt den Abt Thomas persönlich. Sollte er tatsächlich gerade vor Ort gewesen sein, warum hat er ihn dann nicht einfach gefragt?«
»Tja. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass ein anderer in St. Albans von diesem Brief erfuhr und dann glaubte, dem Bischof davon berichten zu müssen. Erst im Tempel erhielt Savior dann den erwünschten Zugriff auf das Schreiben.«
»Alles möglich. Aber die Frage ist doch, was es den Bischof angeht, wenn der Abt von St. Albans dem Tempelritter Henri de Roslin einen Brief schreibt!«
»Die Antwort könnte sein: Es geht ihn dann etwas an, wenn er seinen Inhalt ahnt oder sogar kennt – und nicht will, dass sich auch nur ein Wort des Inhalts seiner Kenntnis entziehen könnte.«
»In Ordnung«, stimmte Neville zu, »das heißt also: Die Warnung des Abtes von St. Albans, dem Tempel könnte Ungemach drohen, interessiert den Bischof Savior dermaßen, dass er sich unrechtmäßig vorübergehend in den Besitz des Briefes bringt. Wie sollen wir das verstehen?«
Henri sagte: »Vergiss nicht, dass der Bischof von London auch für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zuständig ist. Zumindest soweit dem Gebiet des geistlichen Lebens Gefahren drohen. Er muss also schon aus den gleichen Gründen dafür Interesse aufbringen, aus denen auch der Stadtvogt und das Büro des Stadthauptmannes sich damit beschäftigen müssten.«
»Abwehr von Gefahren meinst du?«
»Ja.«
»Im anderen Fall müssten wir annehmen, er stecke in der Sache, die Abt Thomas andeutet, mit drin.«
»Ja.«
»Ich brenne darauf, nach St. Albans zu kommen!«
Der Ritt über die Hügel wurde nun öfter von Schafherden erschwert, die Eingrenzungen durch aufgeschichtete Steinmauern machten Umwege erforderlich. Die Dörfer bestanden aus ein paar Häusern, meist einer niedrigen Kirche und einem Torturm, mit der in Parzellen eingeteilten Allmende darum herum. Weiß gestrichene Zäune markierten den Besitz. Als sie am Rand des Dorfes vorbeiritten, rief ein altes Bauernpaar: »Lang lebe König Edward der Erste!«
Henri und Neville mussten lachen. Henri sagte: »Sie halten uns für Soldaten unseres despotischen Königs, der gerade gegen die Waliser Zwingburgen baut.«
Neville gab zurück: »Und wir halten alle Landbewohner für Schafhirten.«
»Sagt man nicht: Das Schaf zahlt alles?«, lachte Henri. »Ich kann nur hoffen, dass hier alle Schafhirten und Schafzüchter sind. Dann geht es England gut.«
Noch vor der Mittagszeit kam in einem Wiesenstück hinter Birkenhainen, in denen zartes Grün in der Brise flirrte, St. Albans in Sicht. Henri plante, sich beim Abt anzumelden und während der Wartezeit ein benachbartes Gut aufzusuchen, das Kellermeister Cuthbert ihm ans Herz gelegt hatte. Er musste mit dem Verwalter sprechen. Wenn Abt Thomas dann Zeit hatte, würden sie endlich erfahren, worum es sich handelte.
Sie ritten an ärmlichen Hütten vorbei. Aber die Straßen zeigten teilweise einen festen Belag aus Lehm und Flechtwerk. Das Klostergelände befand sich am östlichen Rand des Ortes. Es war überraschend groß und bildete ein Rechteck. Mehrere gut angelegte und saubere Fischteiche und ausgedehnte Ländereien gehörten dazu. Einige gemauerte Gebäude dienten weltlichen Zwecken der Bearbeitung, die Mehrheit der Bauten im Osten des Geländes wurde zu geistlichen und privaten Zwecken genutzt. Die Klosterkirche in der Mitte der Anlage war von Baugerüsten umgeben. Als Henri und Neville näher kamen, sahen sie, dass neue Querschiffe und ein Presbyterium angebaut wurden.
Sie läuteten an der geschlossenen Pforte. Ein junger Mönch mit missmutigem Gesicht erschien, dem sie ihr Anliegen mitteilten. Er verstand sie erst nach längeren Erklärungen, kratzte sich am Kopf und verschwand endlich wortlos. Er winkte einen anderen Bruder mit sich. Auch ein Stallknecht tauchte aus dem massiven Holzbau des Stalles zur Linken auf. Da Henri aber
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