Mord im Nord
missionarischem Eifer in mir auch zutreffe. Nur, fügte ich hinzu, hätte ich ein gutes Regulativ dafür, diesen nicht überborden zu lassen.
Was das denn sei, hakte Adelina nach, und ich erklärte ihr, dass mir nahestehende Menschen oft eine Seite ausleben, die ich in mir auch kenne, mir also eine Spiegelungsmöglichkeit bieten. Interessanterweise leben sie diese Seite oft weitaus stärker, als es für mich gut wäre. Indem sie diese Seite in meinen Augen übertreiben, helfen sie mir, das für mich richtige Mass zu finden. Dafür sei das mit Hans geteilte, wenngleich in unterschiedlichem Ausmass auftretende Faible für menschheitsbeglückende Missionen ein gutes Beispiel.
Um zur Erzählung von Hans zurückzukehren, sei mir jedenfalls klar, dass ihn diese Claudia vor allem deswegen so fasziniert habe, weil er mit ihr einen geistigen Austausch auf Augenhöhe über ein Thema pflegen konnte, das ihn offenbar mächtig interessierte. Damit war Adelina einverstanden, wenngleich sie anmerkte, in der bisherigen Erzählung von Hans würde alles darauf hinauslaufen, da sei noch mehr im Spiel als eine rein platonische Beziehung. Wie auf Stichwort ging der Strom wieder an, und nachdem mein Mac seine üblichen Aufstartrituale erledigt hatte, konnten wir weiterlesen:
«Claudia und ich haben uns wie vereinbart auf der Schwägalp getroffen, an der Talstation der Säntisbahn. Das Wetter hielt, was es versprochen hatte, und Claudia sah in ihrem eigens für den Anlass gekauften Berg-Outfit hinreissend aus, was ich zugeben musste, obwohl mich so was sonst überhaupt nicht interessiert.
Während der Fahrt mit der Schwebebahn von der Schwägalp zum Säntisgipfel fragte sie mich, ob ich das Buch ‹Die Kanzlerin› von Fritz Dinkelmann kenne. Als ich verneinte, erzählte sie mir, dass darin in eben dieser Schwebebahn ein Giftgasanschlag auf die halbe deutsche Bundesregierung stattfindet, die sich oben auf dem Säntis mit dem Schweizer Bundesrat treffen will. Zunächst gibt es eine Attacke mit Lachgas, die das politische Personal in der Kabine ausflippen lässt und sie zu allerlei seltsamen Tun treibt. Die Kanzlerin selbst merkt etwas und steigt an der Zwischenstation aus, während sonst oben nur noch Leichen ankommen. Wir schüttelten uns aus vor Lachen ob der Vorstellung von sich wild aufeinanderstürzenden Ministerinnen und Staatssekretären. Die Reaktionen der übrigen Fahrgäste auf unseren Lachanfall reichte von irritiert bis indigniert, was uns jedoch nicht weiter störte.
Nach dem Abstieg über den Lisengrat machten wir auf dem Altmannsattel Rast und plauderten ein wenig über Schwindelgefühle, die ich auf dem Grat tatsächlich stärker verspürt hatte als früher, und darüber, ob man mit zunehmendem Alter nicht einfach mehr Situationen am Abgrund kennt, auch im übertragenen Sinne, und damit mehr realen Anlass für Schwindelgefühle hat. Nach diesem philosophischen Intermezzo nahmen wir die Besteigung des Altmanns in Angriff.
Das ist ja nur eine kurze Kletterei, die leichter ging, als ich befürchtet hatte, und so waren wir bald auf dem Gipfel. Der Gipfelkuss war jetzt eindeutig leidenschaftlich zu nennen, und wer weiss, was da oben noch geschehen wäre, wenn sich nicht plötzlich ein anderes Grüppchen von Berggängern etwas unterhalb des Gipfels lautstark bemerkbar gemacht hätte.
So blieb es beim Bewundern der Aussicht und dem Geniessen des Gefühls, an einem Ort zu sein, von wo aus es überall nur runtergeht. Der Blick reichte überall hin weit, nur in Richtung des nahen Säntisgipfels war eine Nebelwolke aufgestiegen und verhüllte den Nachbarberg ganz. Hätten wir nicht gewusst, dass dort ein noch etwas höherer Berg existiert, hätten wir uns im Glauben wähnen können, auf dem höchsten Gipfel weit und breit zu weilen.
Ob höchster oder zweithöchster Gipfel des Alpsteins, war uns letztlich egal. Wir genossen eine ganze Weile die himmlische Ruhe und machten uns dann auf demselben Weg zurück zum Säntis, der zum Glück wieder hüllenlos war. Auf der Schwägalp stand Claudias wie zu erwarten schnittiger Schlitten, der uns in einer bequemen Fahrt zum Hotel Hofweissbad brachte.
Schon unterwegs schwärmte Claudia von den Erlebnissen dieses Tages, vom wohligen Gefühl der Hände auf warmem Fels, von der Landschaft, vom Genuss reinen Quellwassers, wenn man richtig Durst hat. Im Hotelzimmer, ich hatte einen Moment lang daran gezweifelt, ob sie wirklich ein Doppelzimmer gemeint hatte, doch es war eines, zogen wir uns
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