Mord im Nord
zurückgehalten, weil ich nicht wollte, dass ihr anderen seht, wie sehr mich das Thema angesprochen hat. Jetzt gestehe ich: Ja, ich glaube ernsthaft an diese Möglichkeit. Und ich sehe sogar trotz intensiver rationaler Auseinandersetzung keine bessere, weil einfachere und günstigere Möglichkeit, die Welt zu verbessern, als das Bewusstsein möglichst vieler Menschen mit ein bisschen künstlicher Unterstützung der Gehirnchemie zu verbessern. Alles andere hat sich als viel zu mühsam und langwierig erwiesen, und wir haben die Zeit nicht mehr abzuwarten, bis die Menschen ihr Bewusstsein mit Hilfe von Yoga oder Philosophie selbst optimiert haben.
Diese meine sonst weitgehend geheimen Überzeugungen offenbarte ich Claudia an jenem Abend. Sie hörte aufmerksam und empathisch zu und unterstützte meinen zunehmend feuriger werdenden Redefluss zusätzlich, indem sie fleissig nachschenkte. Im Nachhinein ist mir klar, was ihr Signal an den Kellner bedeutet hatte: Bring eine Flasche von jener raren Sorte, welche die Zunge mehr als andere lockert! Tatsächlich war die dritte Flasche eine andere Sorte. Das fiel mir damals nicht wirklich auf, zumal ich mich jetzt immer mehr in meine idealistische Vorstellungswelt hineinsteigerte, in der echte Glückspillen, wie ich sie nannte, einen wichtigen Beitrag zu einem gedeihlicheren Umgang der Menschen miteinander leisten würden.
An Claudia hatte ich im Verlaufe der wenigen Stunden, die wir uns kannten, schon so viele idealistische Seiten festgestellt, dass mir jetzt das Bekenntnis zu meinen gut verborgenen, aber heftig glühenden idealistischen und weltverbessererischen Seiten leichtfiel. Ich steigerte mich immer mehr in eine Euphorie hinein, die beflügelt wurde durch den Umstand, dass mir Claudia immer öfters bejahend zulächelte, dabei immer näher an mich heranrückte und mich dabei unbeschreiblich weibliche Düfte riechen liess.
Anders als sie, fuhr ich fort, glaubte ich allerdings weniger an den Weg der Pharmaindustrie. Meine Hoffnungen würden sich vielmehr dahingehend richten, dass es eines Tages natürliche Substanzen geben würde, die denselben oder noch besseren Effekt haben wie eine Glückspille.
Claudia flirtete jetzt offensichtlich mit mir und begehrte mehr zum Thema zu wissen. Und da geschah es. Ich vergass all meine Gelübde und erzählte ihr von unserem Experiment mit dem Käse, der Seelenfrieden schenkt. Das sei es, was ich ein Leben lang gesucht hätte, ganz und gar natürlich und authentisch und deshalb besser als die beste chemische Glückspille.
Erinnere Dich bitte daran, dass diese Erfahrung gerade mal einen Tag zurücklag. Ich muss gestehen, dass ich immer noch total erfüllt war davon. Wie Du Dich erinnern magst, habe ich mich auch da in der Besprechung der Wirkungserfahrungen zurückgehalten und mich zwar positiv, aber keineswegs euphorisch geäussert. Dabei war ich innerlich völlig aufgewühlt und überwältigt. Das war tatsächlich das, wonach ich ein Leben lang gesucht hatte. Bei meinem schwierigen Charakter waren und sind Gemütszustände, die sich als Seelenfrieden bezeichnen lassen, ein rares Gut und entsprechend kostbar. Jetzt hatte ich einen Weg entdeckt, diesen von mir so sehr herbeigesehnten Bewusstseinszustand ganz leicht und unbeschwert zu finden – einfach, indem ich ein Stück Käse ass.
Das alles hatte ich an jenem Abend in Basel noch keineswegs verdaut. Nur so ist meine Geschwätzigkeit zu erklären. Ja, dieser spezielle Wein war sicher nicht ganz unschuldig, und vor allem hatte ich mich mittlerweile so sehr in Claudia verknallt, dass ich vermutlich wirklich nicht mehr ganz zurechnungsfähig war. Das alles vermag nichts zu entschuldigen, vielleicht aber, wie ich hoffe, ein wenig zu erklären.
In jenem Moment war mir gar nicht bewusst, dass ich ein Geheimnis ausplauderte, und auch Claudia zeigte während meiner Erzählung keine andere Regung als ihre mir schon so lieb gewonnene grenzenlose Neugier. Sie flirtete immer ungenierter mit mir, und ich entdeckte beim Zurückflirten lange verschüttet geglaubte Fähigkeiten in mir wieder. Schliesslich fand sie, es sei ausreichend spät geworden, übernahm wie selbstverständlich die Rechnung und verabschiedete sich mit einem erotischen Wangenkuss ganz nah bei meinen Lippen, nicht ohne dass wir uns vorher für ein zweites Treffen verabredet hätten. Wir könnten uns doch in der Mitte treffen, also in Zürich, und da böte sich doch angesichts unserer Appenzeller Verbindungen das Appenzellerhaus
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