Mord im Spiegel
praktizierte er nicht mehr. Er kümmerte sich nur noch um ein paar bestimmte langjährige Patienten.
»Wie ich höre, sind Sie gestürzt«, sagte er, nachdem er sein Glas ausgetrunken hatte. »Das ist nicht gut, wissen Sie, in Ihrem Alter ist das besonders gefährlich. Ich muss Ihnen ernsthaft ins Gewissen reden. Und wie ich außerdem höre, wollten Sie Sandford nicht kommenlassen.«
Sandford war Haydocks Partner.
»Ihre Miss Knight hat ihn ja trotzdem geholt – und sie hatte völlig Recht.«
»Nur eine kleine Prellung und ein kleiner Schreck. Das hat Doktor Sandford auch gesagt. Ich hätte genauso gut warten können, bis Sie zurück waren.«
»Hören Sie, meine Liebe, ich kann nicht ewig praktizieren. Und Sandford ist viel tüchtiger als ich, das kann ich Ihnen versichern. Ein erstklassiger Mann.«
»Die jungen Ärzte sind alle gleich«, meinte Miss Marple. »Sie messen den Blutdruck, und egal, was einem fehlt, man bekommt irgendwelche neumodischen Tabletten verschrieben, die es massenweise gibt. Rosa Tabletten, gelbe, braune. Medikamente sind heute abgepackt wie die Sachen im Supermarkt.«
»Es geschähe Ihnen recht, wenn ich Ihnen Blutegel ansetzte oder ein Abführmittel verschriebe oder Ihnen die Brust mit Kampfer einriebe.«
»Wenn ich Husten habe, reibe ich mich immer ein«, sagte Miss Marple nachdrücklich. »Es hilft jedes Mal.«
»Wir werden nicht gerne alt, das ist es«, sagte Doktor Haydock freundlich. »Ich hasse es.«
»Im Vergleich zu mir sind Sie noch ein ziemlich junger Mann«, erklärte Miss Marple. »Und das Altwerden selbst stört mich nicht – jedenfalls nicht sehr. Nur das unwürdige Drumherum.«
»Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.«
»Nie allein sein zu können! Was für ein Problem, auch nur ein paar Minuten allein spazieren gehen zu können. Und sogar das Stricken, das immer so ein Trost gewesen ist – und ich strickte wirklich gut. Jetzt lasse ich andauernd Maschen fallen, und oft merke ich es nicht einmal!«
Nachdenklich sah Haydock sie an. Dann zwinkerte er fröhlich. »Es gibt immer noch die Möglichkeit, das Gegenteil zu tun.«
»Was soll das heißen?«
»Wenn Sie nicht ordentlich stricken können, warum nicht einmal das Gegenteil probieren und die Sache auftrennen? Penelope hat das auch schon gemacht.«
»Ich befinde mich wohl kaum in der gleichen Lage.«
»Aber eine Geschichte zu ihren Ursprüngen zurückzuspulen, liegt Ihnen doch ebenfalls, nicht wahr?« Er erhob sich. »Ich muss mich verabschieden. Wenn ich könnte, würde ich Ihnen einen hübschen, saftigen Mord verschreiben.«
»Was Sie da sagen, ist unerhört!«
»Wirklich? Nun, Sie können sich ja inzwischen mit der Frage beschäftigen, wie tief die Petersilie an einem Sommertag in die Butter einsank. Ich habe sehr oft darüber nachgegrübelt. Der gute alte Sherlock Holmes. Ziemlich altmodische Geschichten, heutzutage, aber man wird ihn nie vergessen.«
Nachdem der Arzt gegangen war, kam Miss Knight geschäftig ins Zimmer.
»Aha!«, rief sie. »Wir sind schon viel munterer. Hat er Ihnen kein Stärkungsmittel empfohlen?«
»Doch. Er hat mir geraten, mich mit Mord zu beschäftigen.«
»Mit einem hübschen Kriminalroman?«
»Nein!«, antwortete Miss Marple. »Mit einem richtigen.«
»Um Gottes willen!«, rief Miss Knight. »Aber in einem so friedlichen Ort wie unserem wird kaum ein Mord passieren.«
»Morde«, meinte Miss Marple, »können überall geschehen.«
»Vielleicht in der Siedlung?« überlegte Miss Knight. »Eine Menge junger Kerle trägt ein Messer.«
Aber der Mord, der dann geschah, ereignete sich nicht in der Siedlung.
4
M rs Bantry trat einen Schritt zurück, musterte sich im Spiegel, schob den Hut etwas zurecht – sie war das Hütetragen nicht gewöhnt – und streifte ein Paar kräftige Lederhandschuhe über. Dann verließ sie das Haus und schloss sorgfältig die Eingangstür ab. Sie freute sich sehr auf das, was sie erwartete. Miss Marples Besuch lag mehr als drei Wochen zurück. Marina Gregg und ihr Mann waren in »Gossington Hall«, eingetroffen und hatten sich dort mehr oder weniger eingerichtet.
Heute Nachmittag sollte ein Treffen der wichtigsten Leute stattfinden, die sich um die Vorbereitungen für das Wohltätigkeitsfest kümmerten. Mrs Bantry gehörte zwar nicht diesem Komitee an, doch sie hatte von Marina Gregg eine Einladung erhalten, vorher mit ihr Tee zu trinken. Die Karte war mit der Hand geschrieben gewesen, nicht getippt, und Marina Gregg hatte die Begegnung
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